Möglicher AfD-OB in Sachsen: Pirna tanzt auf Messers Schneide

AfD-Kandidat Tim Lochner hat gute Chancen, am Sonntag der erste Oberbürgermeister der AfD zu werden. Ihm hilft das Zerwürfnis im demokratischen Lager.

Pirna aus der Luft gesehen mit dem Rathaus und der Marienkirche

Pirna vor der zweiten Runde der Oberbürgermeisterwahl am 17. Dezember Foto: Sebastian Kahnert/dpa

BERLIN taz | Eine Szene hat sich Hanna Schulz vom Bündnis „Sächsische Schweiz-Osterzgebirge gegen rechts“ ins Gedächtnis gebrannt: Am Tag nach dem ersten Wahlgang zum Oberbürgermeister von Pirna hatten die Freien Sachsen um den Neonazi Max Schreiber in die sächsische Kreisstadt mobilisiert. Ihre Demo zog an dem Montagabend Ende November mit Reichsfahnen, Flaggen der Freien Sachsen und der „Heimat“, wie sich die NPD heute nennt, völkischer Musik und Kuhglockenlärm unter dem Motto „Keine Ruhe den Altparteien“ durch die 40.000-Einwohner-Stadt zwischen Dresden und der tschechischen Grenze.

Die Neonazi-Demo endete vor dem Kreistag und der benachbarten NS-Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein. Also exakt dort, wo die Nazis systematisch 14.720 psychisch Kranke und geistig behinderte Menschen in der Vernichtungsaktion „T4“ ermordeten. Die Asche der Vergasten und Verbrannten verteilten sie auf dem Hügel hinter den bis heute teils erhaltenen Gebäuden.

An jenem Montag wurde der Demozug der Freien Sachsen genau hier von AfD-Unterstützern empfangen. Eigentlich gibt es in der Partei einen Unvereinbarkeitsbeschluss zu den Freien Sachsen und zur NPD, respektive der „Heimat“, sowieso. Hier, vor der NS-Gedenkstätte, übten die Demonstrierenden allerdings den offenen Schulterschluss. Auch mehrere AfD-Kreistagsabgeordnete schlossen sich dem Protest an. Schulz sagt: „Es war fürchterlich – und trotzdem versuchen Leute hier immer noch, das Problem mit dem Rechtsruck wegzudiskutieren.“

Tags zuvor hatte der AfD-Kandidat Tim Lochner beim ersten Wahlgang der Oberbürgermeisterwahl von Pirna mit knapp 33 Prozent die meisten Stimmen geholt. Weil er die absolute Mehrheit verfehlte, wird kommenden Sonntag noch mal gewählt. Diesmal reicht laut sächsischem Kommunalwahlgesetz, das keine Stichwahl vorsieht, eine einfache Mehrheit. Nun droht der Einzug der rechtsextremen und geschichtsrevisionistischen AfD ins Rathaus. Lochner wäre bundesweit der erste Oberbürgermeister der AfD.

„Nie wieder CDU“ funktioniert hier nicht

Hanna Schulz, die mit ein paar Dutzend Personen gegen die Neonazi-Demo protestierte, heißt eigentlich anders, will aber ihren richtigen Namen aus Angst vor rechten Drohungen nicht in der Zeitung lesen. Sie klingt ernüchtert, wenn sie erzählt, wie tiefgreifend der Rechtsruck in ihrer Region ist – etwa wenn der rassistische Demoaufruf der Freien Sachsen in nahezu jeder Familien-Chatgruppe der Region lande und 3.000 Menschen in einem kleinen Kurort wie Berggießhübel gegen Geflüchtete demonstrieren.

Einige aus ihrem erst im August überwiegend von Schülern gegründeten Bündnis trauten sich damals im September nicht gegen die Freien Sachsen zu demonstrieren, weil sie Angst hatten, Verwandte, Nachbarn oder Freunde auf der Gegenseite zu treffen – und erkannt zu werden und danach als Nestbeschmutzer zu gelten „oder gleich von Oma enterbt zu werden“, sagt Schulz.

Beim zweiten Wahlgang am Sonntag kommt es zu einem Dreikampf: Gegen Lochner treten erneut die Freien Wähler an sowie eine CDU-Kandidatin. Hanna Schulz sagt resigniert: „Ein Glück, dass ich die CDU wählen kann – das ist das Linkeste, was wir gerade haben. Wenn ich nur daran denke, bekomme ich Lust auf Glühwein.“ Das Motto „Nie wieder CDU“ funktioniere hier nicht – sie hoffe, dass die CDU-Kandidatin das Rennen mache.

Dafür spricht einiges: Zuletzt verlor die AfD Oberbürgermeisterwahlen und bereits sicher geglaubte Kommunalwahlen, obwohl sie jeweils im ersten Wahlgang teils deutlich vorne lag. Allerdings haben viele noch die Wahl von Robert Sesselmann zum ersten AfD-Landrat im thüringischen Sonneberg im Sommer im Hinterkopf.

Verbindungen zu Völkischen und Neonazis

In Pirna immerhin gilt der Tischlermeister Lochner als schwacher und in der Stadt eher unbeliebter Kandidat. Er hatte vor Ort die Corona-Proteste mit­organisiert, holte aber trotz des derzeitigen Umfragehochs der AfD im ersten Wahlgang sogar weniger Stimmen als 2017 – was noch immer für den ersten Platz reichte.

Lochner ist kein AfD-Mitglied, tritt aber zum wiederholten Mal auf dem Ticket der in Sachsen jüngst vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuften Partei an und ist auch Fraktionsmitglied im Kreistag. Auf eine taz-Anfrage reagierte er nicht. Auf Facebook ist Lochner auch mit dem Neonazi Max Schreiber von den Freien Sachsen befreundet. So überrascht dann auch nicht, dass der Neonazi Wahlwerbung für den AfD-Kandidaten macht.

Wie wichtig es der AfD ist, erstmals eine Oberbürgermeisterwahl zu gewinnen, zeigt sich auch an der prominenten Unterstützung für Lochner im Wahlkampf vor allem aus dem völkisch-nationalistischen Flügel der Partei: So kamen unter anderem sowohl der Vize-Bundessprecher Stephan Brandner als auch der Spitzenkandidat für die Europawahl, Maximilian Krah, auf den Pirnaer Markplatz, um vor ein paar Dutzend Leuten rassistische Verschwörungsideologien von „Umvolkung“ und „großem Austausch“ zu verbreiten. Auch NS-Relativierung durfte nicht fehlen, als Krah ausgerechnet in Pirna davon sprach, dass „die anderen euch einreden wollen, dass eure Vorfahren Verbrecher waren“.

Zerwürfnis im demokratischen Lager

Helfen dürfte Lochner im zweiten Wahlgang aber vor allem das Zerwürfnis im restlichen politischen Lager. Denn Lochners Konkurrenz nimmt sich die Stimmenanteile möglicherweise gegenseitig weg: Neben Ralf Thiele von den Freien Wählern tritt für die CDU Kathrin Dollinger-Knuth an, die im zweiten Wahlgang auch von SPD, Linken und Grünen unterstützt wird.

Gespräche für ein abgestimmtes Vorgehen sollen gescheitert sein, auch weil Thiele von den Freien Wählern gleich am Tag nach dem ersten Durchgang ankündigte, in der zweiten Runde erneut anzutreten. Thiele wird von Lokalprominenz wie dem in Sachsen bekannten Kabarettisten Tom Pauls alias Ilse Bähnert unterstützt. In dessen Talk­runde sprach Thiele sich gegen „relativ bunte Bündnisse“ von Parteien aus. Thiele war lange Stadtrat und ist als Unternehmer und Vorstandsvorsitzender der Lebenshilfe gut vernetzt. Im ersten Wahlgang wurde er mit 23 Prozent Zweiter.

Aber auch die knapp dahinter mit 20 Prozent drittplatzierte CDU-Kandidatin Dollinger-Knuth tritt erneut an. Auf taz-Anfrage sagte die 51-jährige ehemalige Landrätin, sie habe nach Absprachen mit SPD, Grünen und dem parteilosen Kandidaten Liebscher rund 44 Prozent der Stimmen hinter sich vereint. Thiele von den Freien Wählern habe Gesprächsangebote ausgeschlagen. Dollinger-Knuth sagte der taz: „Wir wollen die politischen, aber auch gesellschaftlichen Kräfte in unserer Stadt zusammenführen, um ein modernes und zukunftsgewandtes Pirna gemeinsam zu gestalten.“

Bei den Grünen gibt es schon länger Zweifel, ob das mit den Freien Wählern möglich sei. Sie kritisieren die Partei in Pirna für einen populistischen Kurs in der Energiekrise. Ebenso werfen die Grünen ihnen mangelnde Distanz zu rechten Kreisen vor: So habe ein Vorstandsmitglied Ende November 2022 zu einer Veranstaltung eingeladen, bei der der rechtsextreme Verleger und Höcke-Freund Götz Kubitschek einen Vortrag halten sollte.

Auf taz-Anfrage sagt Bärbel Falke, Sprecherin der Grünen Pirna, es sei dennoch nicht von der Hand zu weisen, dass der Dreikampf am Ende der AfD nutzen könnte: „Es ist ein Tanz auf Messers Schneide.“ Unterm Strich habe man sich aber für die Unterstützung von Dollinger-Knuth entschieden – die sei eine „wirkliche Demokratin, die sich klar von rechts abgrenzt und bereit ist für breitere Bündnisse der Stadtgesellschaft“, so Falke.

Ähnlich positionierten sich auch Linke und SPD, deren Kandidat Ralf Wätzig der taz sagte, dass es einige Stimmen gegeben hätte, die weder Thiele noch Lochner für wählbar hielten. Dollinger-Knuth hingegen habe als Person immer einen respektvollen Umgang gepflegt und unterstütze eine Vielzahl sinnvoller Ideen für Pirna, so Wätzig: „Sicher vereint dieses breite Bündnis das Minimalziel, einen AfD-Oberbürgermeister für Pirna zu verhindern.“

Stadtgesellschaft in Sorge

Mittlerweile bewegt sich auch zivilgesellschaftlich etwas in Pirna. Der ansässige gemeinnützige Verein „Aktion Zivilcourage“ wirbt vor dem zweiten Wahlgang vor allem für eine höhere Wahlbeteiligung – Geschäftsführer Sebastian Reißig fand es alarmierend, dass bei einer solchen Richtungswahl nur 50 Prozent der Wahlberechtigten abstimmten. Deswegen habe der Verein mit der Kampagne „5-3-7“ für eine hohe Wahlbeteiligung geworben. Motto: „5 Minuten ihrer Zeit entscheiden am 3. Advent über 7 Jahre Pirna!“ – so lange dauert die Amtszeit eines Oberbürgermeisters.

Eine parteipolitische Posi­tio­nierung vermeidet das Bündnis. Sebastian Reißig sagte der taz, dass man in der Vereinssatzung parteipolitische Neutralität verankert habe und sich deswegen zum neutralen Wahlaufruf entschieden habe: „Die Leute entscheiden, ob wir ein freundliches und weltoffenen Gesichts zeigen oder nicht.“

Die positive Resonanz auf die Kampagne mache ihn insgesamt hoffnungsfroh, sagt Reißig. Der Aufruf komme in der Stadt sehr gut an, die Poster hingen in vielen Schaufenstern der Innenstadt und der Wahlaufruf werde in den sozialen Netzwerken verbreitet. Zugleich sei die Sorge vor einem Sieg der AfD in der Stadtgesellschaft, in Vereinen und Unternehmen groß, so Reißig – vor allem was Investitionen angehe: „Es gibt Vorhaben, die Innenstadt mit Hotelansiedlungen neu zu beleben – die Wahl der AfD würde das nicht leichter machen.“

Gedenkstätte grenzt sich von AfD ab

Immerhin: Die Einflussmöglichkeiten auf die Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein wären für einen Oberbürgermeister Tim Lochner begrenzt, weil der Erinnerungsort von der Stiftung Sächsische Gedenkstätten in freier Trägerschaft betrieben wird. Das stellte der Geschäftsführer der Stiftung, Markus Pieper, gegenüber der taz klar. Darüber hinaus verneint er jedwede Kooperation oder Zusammenarbeit mit der AfD: „Unsere Ge­denk­orte haben den gesetzlichen Auftrag, das ehrende Andenken an die Opfer der NS-Diktatur wachzuhalten. Das schließt aus, dass wir extremistischen Parteien und Organisationen Raum geben oder mit ihnen zusammenarbeiten.“

Ebenso lehne man Delegationsbesuche der AfD grundsätzlich ab. Gleichwohl gebe es natürlich für gewöhnlich Berührungspunkte mit der Kommune vor Ort, etwa bei Gedenkveranstaltungen oder Jahrestagen. Aber die Stiftung ziehe bei der AfD auch hier eine rote Linie, sagt Piepert mit Verweis auf die kürzliche Einstufung des Landesverbands in Sachsen als gesichert rechtsextrem durch den Verfassungsschutz: „Für uns ist ein entscheidender Punkt, dass sich das Menschenbild der AfD aus nationalsozialistischen Traditionen speist. Wir können nicht mit der AfD zusammenarbeiten und tun das auch nicht.“

Der Gauland-Vergleich vom Fliegenschiss, aber auch die Höcke-Forderung von einer erinnerungspolitischen Wende stünden den Positionen der Stiftung diametral entgegen.

Für die Stadtgesellschaft in Pirna bleibt es nicht nur aufgrund der Symbolwirkung ein großes Risiko, dass Lochner der erste Oberbürgermeister der AfD wird. Seine Wahl hätte wohl verheerende Folgen für Menschen, die von Rassismus betroffen sind – und auch für zivilgesellschaftlich Engagierte. Sollte die AfD am Ende tatsächlich gewinnen, will Hanna Schulz vom „Bündnis Sächsische Schweiz Osterzgebirge“ sich erst recht weiter gegen rechts engagieren – am Sonntag bräuchte sie aber vermutlich erst einmal einen Glühwein mehr.

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