Graphic Novel über Emmie Arbel: „Ich war nicht schwach“

Barbara Yelin erzählt in einer Graphic Novel von der in Israel lebenden Emmie Arbel. Von Kindheit und Überleben mit dem Holocaust.

Ein Mädchen mit kurz geschnittenen Haaren, einfach angezogen, es schaut androgyn und vorzeitig gealtert aus

Aus: Barbara Yelin, „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“ Foto: Foto: Barbara Yelin/Reprodukt

Zwei Bilder eines kleinen Mädchens. Auf dem ersten lacht es, sorgfältig gekleidet, in die Kamera eines Fotostudios. In seinem Haar steckt eine große Schleife; auf dem Schoß hält es einen Spielzeug-Pinguin.

Auf dem zweiten Bild, das 1945 aufgenommen wurde, ist das Mädchen acht Jahre alt – und kaum mehr wiederzuerkennen. Mit kurz geschnittenen Haaren, einfach angezogen, schaut es androgyn und vorzeitig gealtert aus. Das liegt vor allem an seinem Blick, der tief und forschend ist, misstrauisch und leicht rebellisch. Das ist kein Kinderblick mehr, sondern der eines seelisch zutiefst versehrten Menschen, der die Hölle auf Erden gesehen hat.

Barbara Yelin (Text und Zeichnungen): „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“. Herausgegeben von Charlotte Schallié und Alexander Korb. Reprodukt Verlag, Berlin 2013. 192 Seiten, 29 Euro

Das Mädchen heißt Emmie Arbel; aus ihm wurde eine Frau, die inzwischen 86 ist und in Israel lebt. Geboren 1937 in Den Haag, wurde sie 1942 mit ihrer Familie in das Sammellager Westerbork, 1944 dann mit ihrer Mutter und ihrem älteren Bruder Rudi nach Ravensbrück deportiert.

Das Kriegsende erlebte sie in Bergen-Belsen; kurz nach der Befreiung des Lagers starb Emmies Mutter. Ihr Vater wurde in Buchenwald ermordet, ihre Großeltern in Auschwitz. Menachem, ein weiterer Bruder, überlebte und kam in Holland wieder mit seinen Geschwistern zusammen.

Kinder nicht im Focus der Forschung

Eine Million jüdischer Kinder wurde im Holocaust umgebracht. Für diejenigen, die davonkamen, hat sich die Forschung zum Nationalsozialismus lange nicht besonders interessiert.

Ging es um Berichte von Zeitzeugen, lag der Fokus auf den erwachsenen Überlebenden. Erst seit aus den damaligen Kindern Hochbetagte geworden sind, hat sich dies geändert. So konnte diese Graphic Novel entstehen, im Rahmen eines von Kanada ausgehenden internationalen Projekts, das den bislang wenig Beachteten eine Stimme geben und zugleich neue Formen wissenschaftlicher und künstlerischer Vermittlung des Holocausts erproben will.

Im vorigen Jahr erschien bereits der Band „Aber ich lebe“ (taz vom 14. 8. 22), in dem Barbara Yelin auf 40 Seiten zentrale Erlebnisse Emmie Arbels wiedergab. „Die Farbe der Erinnerung“ erlaubt nun einen genaueren Einblick in das Leben dieser außergewöhnlichen Frau.

„Ich mag das Wort ‚Überlebende‘ nicht“, sagt Arbel in einem der vielen Gespräche, das Yelin mit ihr geführt hat. „Der Arme, die Arme, sie hat überlebt. Ich mag es nicht, wenn man mich bemitleidet oder denkt, ich sei schwach. Ich war nicht schwach. Das weiß ich. Ich weiß, dass ich stark bin.“

Unerschütterlicher Lebensmut

Dieser unerschütterliche Lebensmut ist umso bemerkenswerter, als Arbel weitere belastende Erfahrungen nicht erspart geblieben sind. Die schwerwiegendste unter ihnen: In Holland wurde sie von ihrem Pflegevater, der Auschwitz überstanden hatte und einen besten Ruf als Erzieher und Menschenfreund genoss, ein Jahr lang systematisch sexuell missbraucht.

Barbara Yelin skyped mit Emmie Arbel

Aus: Barbara Yelin, „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“ Foto: Foto: Barbara Yelin/Reprodukt

Weder darüber noch über ihre KZ-Erfahrungen wollte und konnte Arbel jahrzehntelang sprechen. Im jungen Staat Israel, in den sie 1949 mit ihrer Pflegefamilie auswanderte, war das Reden über den Holocaust verpönt: „Es war nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg. Die Leute fühlten sich stark. Man sprach nicht darüber, was geschehen war. Lange Zeit nicht.“

Die paradoxe Konsequenz dieser Haltung war, dass die Opfer sich schuldig fühlten: „Damals sagten viele Leute in Israel, die Juden in Europa hätten sich wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen. Wir schämten uns.“ Die Kehrseite von Arbels Stärke ist die Abkapselung ihrer Traumata.

Dramatischer Auftakt

Erst 1977, als sie mitten in der Nacht mit dem Auto zu ihrer Psychotherapeutin gerast ist, kann Arbel das, was man ihr angetan hat, äußern. Die Szene bildet den dramatischen Auftakt der Graphic Novel.

Die plötzliche, explosive Freisetzung des Verdrängten setzt Barbara Yelin virtuos in Bildern um, die wie locker auf die Seiten geworfen wirken und sich nicht dem sonst dominierenden Viereckformat fügen wollen. „Wir saßen die ganze Nacht“, heißt es an einer Stelle; darüber ist das Haus der Therapeutin zu sehen, das in einem See aus Nachtblau und Schwarz zu versinken scheint.

„Die Farbe der Erinnerung“ ist das Gegenstück zu der grandiosen Graphic Novel „Irmina“ (2014), in der Barbara Yelin die zunehmende ideologische Verstrickung einer im Grunde emanzipierten, welt­offenen jungen Deutschen zur Zeit des Nationalsozialismus geschildert hat.

Emmie Arbel hat Yelin erstmals 2019 auf dem Gelände von Ravensbrück und danach immer wieder getroffen, sei es in Israel oder zu Zoomgesprächen. Aus der Arbeitsbeziehung ist beidseitig eine enge persönliche Bindung entstanden.

Starke emotionale Wirkung

Im Comic tritt Yelin immer wieder als Interviewerin auf. Sich selbst nimmt sie allerdings völlig zurück. Nur im Nachwort offenbart sie, wie stark die Begegnungen mit Arbel gedanklich und emotional auf sie eingewirkt haben.

Sowohl auf der Ebene der Gegenwart als auch jener der Vergangenheit ist „Die Farbe der Erinnerung“ nicht linear erzählt. Mehr noch. Analog dazu, dass für Arbel die Schrecken ihrer Kindheit nie vergehen können, lässt Yelin die Zeiten und Orte in einer Weise einander überlagern, die nur im Comic, in keinem anderen Medium möglich ist.

Emmie Arbel erzählt am Tisch sitzend ihre Erinnerungen

Aus: Barbara Yelin, „Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung“ Foto: Foto: Barbara Yelin/Reprodukt

So schließt die Szene, in der Arbel sich ihrer Therapeutin öffnet, mit einer Seite, in der vor einem überwiegend schwarzen Hintergrund grauweiße Kringel an das unaufhaltsame Aufsteigen von Kohlensäurebläschen erinnern. Das lässt sich als eine treffende Visualisierung der Wiederkehr von Arbels verdrängten Erinnerungen begreifen.

Auf der nächsten Seite verwandeln sich die Kringel aber in den Kies, der unter Yelins Füßen knirscht, als sie erstmals Ravensbrück aufsucht.

Für die Schilderung ihrer Besuche in Israel verwendet Yelin helle, aber nicht leuchtende Farben. Als sie Arbel die titelgebende Frage stellt, was denn die Farbe der Erinnerung sei, lautet die Antwort: „Schwarz“.

Gefühl der Erniedrigung

Mit dieser Farbe verbindet Arbel das Gefühl der Erniedrigung. Schwarz überwiegt daher in den KZ-Szenen, in denen Yelin die Häftlinge teilweise nur als Schemen zeichnet, geisterhaft, als seien sie schon gestorben. Auch ohne das grafische Ausbreiten grausiger Details sind diese Bilder unendlich bedrückend. Sie zeigen den nicht überbietbaren Schrecken und wahren zugleich die Würde der Opfer.

Es gibt nicht viele Comics, die den Holocaust und seine psychischen Folgen so eindrücklich darstellen wie „Die Farbe der Erinnerung“.

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