Missbrauch in Kolumbien: Recherche im klerikalen Sumpf
Juan Pablo Barrientos deckt Missbrauch in der katholischen Kirche Kolumbiens auf. Dafür erhielt er den Press Freedom Award von Reporter ohne Grenzen.
Für Juan Pablo Barrientos ist der Preis für die Pressefreiheit, den er am 28. November in Brüssel von Reporter ohne Grenzen in der Kategorie „Wirkung“ erhielt, Ansporn, weiterzumachen. „Ich freue mich über die Anerkennung unserer Recherchen. Bisher haben wir die Namen von 573 Priestern zusammengetragen, dank der Aussagen von Opfern und Angehörigen.“ Doch das sei nur die Spitze des Eisbergs. Bisher hat das Rechercheteam um Barrientos nur 13 Prozent der katholischen Archive sichten können. „Es geht also weiter“, erklärt Barrientos aus Paris. Er hat seine Reise nach Brüssel zur Preisverleihung zu einem Abstecher nach Paris genutzt, von wo er in wenigen Tagen zurück nach Bogotá reisen wird.
Dort lebt der 41-jährige Journalist, der für das Onlineportal Casa Macondo gemeinsam mit einem Dutzend Kollegen arbeitet. Menschenrechte und Korruption sind die beiden zentralen Themen, denen sich Casa Macondo verschrieben hat. Diese Themen waren auch der Grund, weshalb Barrientos von Beginn an dabei war. Kontinuierlich an bestimmten Themen arbeiten, immer wieder insistieren, Einsicht in Archive einklagen und die Akten auswerten, das ist die Spezialität des Mannes, der als Halbwüchsiger davon träumte, selbst Priester zu werden.
Zweimal wurde er aus dem Seminar geworfen, weil er unbequeme Fragen stellte, mitbekam, wie Seminaristen in den Zellen von Priestern verschwanden, und nachfragte.
Daran erinnerte sich Barrientos erst wieder, als er vor rund sechs Jahren „Spotlight“ sah, den oscarprämierten Spielfilm über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche von Boston. „Gebannt habe ich damals im Kinosessel den Abspann verschlungen, und als das Wort Medellín über die Leinwand flimmerte, wusste ich, dazu wirst du recherchieren“, erinnert sich der 41-jährige.
Seitdem dreht sich das Gros der Arbeit des zuvorkommend und zurückhaltend auftretenden investigativen Journalisten um Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche Kolumbiens.
Die hat er ins öffentliche Bewusstsein gebracht. Mit seinem 2019 erschienenen Buch „Lasset die Kinder zu mir kommen“, in dem er sexuellen Missbrauch durch 26 katholische Priester aufzeigt.
Das Buch war der Auftakt für eine ganze Serie von Artikeln und Radiobeiträgen zum Thema, die die Gesellschaft mit einem Verbrechen konfrontierten, das bis dahin in Kolumbien in der medialen Wahrnehmung keine Rolle spielte. „Das einzige Land Lateinamerikas, das damals Ermittlungen bereits aufgenommen hatte, war Chile: Sieben Bischöfe wurden 2018 von Papst Franziskus sanktioniert“, erklärt Barrientos.
In Kolumbien war sexueller Missbrauch durch den Klerus kein Thema. Ein potenzieller Grund dafür ist für Barrientos das Überangebot an Themen in einem von vielen Konflikten geprägten Land, in dem die katholische Kirche über viel Einfluss verfügt.
Trotzdem nahm Barrientos die Recherche auf, pflegt den Kontakt zu Opfern, die sich dem Mann, der zuhören kann, anvertrauten. So entstanden und entstehen immer wieder Beiträge über den Missbrauch innerhalb der klerikalen Strukturen Kolumbiens, und längst ist das Thema im Zentrum der Gesellschaft angekommen.
Das Verfassungsgericht hat in zwei Urteilen 2020 und 2022 die Kirche verpflichtet, den Journalisten um Juan Pablo Barrientos Zugang zu den kirchlichen geheimen Archiven zu gewähren. Eine Zäsur, denn in Kolumbien, genauso wie in vielen anderen Ländern der Region, hielten immer wieder Bischöfe die Hand über Päderasten in der Soutane.
Barrientos wurde 2019 und 2020 vor allen in den sozialen Netzwerken angefeindet, bedroht und schloss schließlich seine Accounts – bis er zwischen August und November 2022 in Berlin einen Kurs zur digitalen Sicherheit bei Reporter ohne Grenzen belegt. „Seitdem fühle ich mich wieder sicherer in den sozialen Netzen“, erklärt Barrientos, der nach seiner Rückkehr nach Kolumbien hofft, Zugang zu weiteren Archiven der Kirche zu bekommen. Dabei könnte die Auszeichnung von Reporter ohne Grenzen, über die zahlreiche kolumbianische Medien berichteten, durchaus helfen.
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