Oper „Carmen“ auf 360-Grad-Bühne: Gehobenes Schwofen
Die 360-Grad-Raumbühne Antipolis im Staatstheater Kassel ist beeindruckend und macht eine Operninszenierung von „Carmen“ zum Sensationserfolg.
Mit dem Prädikat „immersiv“ schmücken sich ambitionierte Kunstanstrengungen heute fast schon zwanghaft. Oft bleibt das Versprechen allerdings marktgängige, weil politisch gewollte Behauptung, die Subventionen sichert.
„Carmen“ am Staatstheater Kassel: wieder 24. November sowie 1. und 26. Dezember 2023 und dann ab 2024
Da insbesondere ritualisierte Kulturtechniken wie Konzert oder Theater der Durchlässigkeit eher zu widersprechen scheinen. Dabei ist im Theater die Idee der fürs Immersive gemachten Raumbühne schon etwa 100 Jahre alt. Wirklich durchsetzen konnte sich das Prinzip nie, aber immer mal wieder wird das Gegenmodell der klassischen Guckkastenbühne neu erdacht und in unterschiedlichsten Formen wiederbelebt.
Die Chancen liegen auf der Hand: Eine Raumbühne ermöglicht unmittelbare Nähe zum Bühnengeschehen und liefert durch die gewollten Einblicke in den Maschinenraum des Theaters und das Making-of einen erhellenden Verfremdungseffekt quasi gratis mit.
Widerständige Namen
Ein Faible für die Raumbühne hat der Kasseler Staatstheater-Intendant Florian Lutz. Bereits an der Oper Halle, seiner vorherigen Wirkungsstätte, ließ er seinen Stamm-Bühnenbildner Sebastian Hannak eine erste Raumbühne installieren, die auf den schönen, widerständigen Namen „Heterotopia“ hörte. Das Experiment stieß vor Ort nicht nur auf Wohlwollen, kassierte aber prompt den „Faust“-Theaterpreis.
In Halle folgte darauf die erweiterte Variante „Babylon“. Am Staatstheater Kassel wuchtete Hannak dann die dritte Raumbühne namens „Pandaemonium“ – ein hübsches Wortspiel mitten in der Pandemie – in den ungleich größeren Theaterraum. Die Installation wurde mit Alban Bergs „Wozzeck“ eingeweiht und diente zudem als Kulisse für zahlreiche weitere Produktionen.
Erneut gab es einen Preis, diesmal den Deutschen Bühnenbildpreis „Opus“ 2023. Seit Oktober ist in Kassel nun „Antipolis“ – die Anti-Stadt – aufgebaut, die diesmal gleich für die gesamte Spielzeit halten muss. Diese gigantische Installation muss nämlich das Problem abfedern, dass die marode Bühnentechnik nicht mehr zum Einsatz kommen darf, aber eine für die Zeit der fälligen Sanierung nötige Ersatzspielstätte noch nicht gefunden ist.
Aus der Not eine Tugend gemacht
Wie schon während der Coronapandemie – als die Raumbühne die nötigen Abstände gleich mit einbaute – wird aus der Not eine Tugend gemacht. Die Raumbühne „Antipolis“ übertrifft alle ihre Vorgängerinnen allerdings um Längen. Nicht nur breitet sie sich bis an die Ränder des Zuschauersaals aus, sie wird sich über die gesamte Spielzeit auch mehrfach verwandeln und immer wieder neue Perspektiven bieten.
Zur Eröffnung von „Antipolis“ gab es dort „Carmen“ zu sehen, die neben der „Zauberflöte“ beliebteste Oper überhaupt. Kaum ein Repertoire-Hit ist derart umstellt von Klischees wie die unverwüstlichen Opéra-comique, inszeniert vom Intendanten Florian Lutz höchstselbst.
Er macht aus der Titelheldin eine unbequeme Revolutionärin und Klassenkämpferin. Die eigentliche Hauptrolle aber spielt die Raumbühne: Hat man eine Karte im Bereich „Antipolis“ gebucht, geht man durch den Backstagebereich zur Bühne, zunächst in einen muffigen Raum, wo man vom „Verfassungsdienst“ empfangen und instruiert und zur Spionage in der revolutionär unterwanderten Fabrik aufgefordert wird.
Zuschauer im Blaumann
Dann darf man auf die Bühne, muss einen blauen Kittel anziehen und ein Haarnetz aufsetzen, denn nun mischt sich das Publikum mit dem Chor und Extrachor in jener Zigarettenfabrik, in der auch die aufmüpfige Carmen arbeitet.
„Antipolis“ breitet sich über die gesamte Bühne, den Orchestergraben, die Hinter- und Seitenbühnen aus und wächst im Zuschauerraum an den Seiten bis zum Rang hinauf. Unzählige Monitore und mehrere „Cam-Operatoren“ lassen nichts unbeobachtet, das Orchester sitzt ziemlich weit hinten auf der Bühne, das singende Personal wird leicht verstärkt.
Florian Lutz erzählt unverschnörkelt und mit viel Sinn für Situationskomik die Geschichte von Freiheitsliebe, Aufbegehren, Eifersucht und Lebensgier im Milieu von Kleinkriminellen. Dabei geht es lustig zu auf der Bühne, zur Party werden (alkoholfreier) Sekt und Bier gereicht, man darf auch mitschwofen, und die Nähe zu den aufgekratzt spielfreudigen Akteuren macht tatsächlich Spaß, der den musikalischen Substanzverlust durch das weit entfernte Orchester verschmerzen lässt.
Überraschter Intendant
Tatsächlich ist die 360-Grad-Oper „Carmen“ ein Sensationserfolg, das immersive Theatererlebnis kommt an, selbst in der gehobenen Altersklasse schwingt man enthemmt das Tanzbein. Vom Erfolg ist der Intendant überrascht: „Wir müssen jeden Abend bis zu 50 Leute wieder wegschicken, die keine Karten mehr kriegen.
Es ist wohl eine Mischung aus dem populären Stück und dem Erleben der Raumbühne, die als spektakulär wahrgenommen wird.“ Insgesamt 150 Darstellende plus Orchester und Besucher mischen sich im ersten Teil der Aufführung auf der Bühne, das Publikum gerät durch die blauen Kittel mitten hinein in die Handlung. Die Initialzündung für das immersive Theater erlebte der Intendant bei der Beschäftigung mit der Neuen Musik, in der solche Konzepte teils bereits angelegt sind.
„Ich fand es verblüffend, wie auch bei sperrigen Stücken in dem Moment, wo das Klangerlebnis ein räumliches Erlebnis wird, plötzlich musikalische und inhaltliche Barrieren kleinere Rollen spielen. Sobald man sich bewegen kann, fühlt man sich durch die räumliche Nähe angesprochen und wird reingezogen. Man findet ein anderes Verhältnis zum Zuschauersein.“
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