„Anna Bolena“ an der Deutschen Oper: Zerbrechliche Königinnen
„Anna Bolena“ ist True-Crime aus dem 19. Jahrhundert. Hochkarätige Sänger:innen machen die Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin sehenswert.
Dann lichtet sich das Gewusel der Nebenfiguren, nur noch Protagonistin und Antagonistin sind übrig. Das Duett zwischen Anne Boleyn und ihrer Nebenbuhlerin Jane Seymour ist einer dieser Momente in der Oper, an denen sich emotionale Spannung entlädt. In dem politischen Spiel, das beide Frauen in „Anna Bolena“ spielen, ist die eine der Untergang der anderen. Und doch verzeihen sie einander. Dann schiebt das Schicksal sie weiter: Anne zum Schafott, Jane in eine toxische Ehe.
Wer als Solistin bei diesem Duett einfach auf der gleichen Intensität durchbulldozert, verliert das Publikum. Nicht so Federica Lombardi als Anne und Vasilisa Berzhanskaya als Jane in der Deutschen Oper Berlin. Lombardi schwingt glasklar und scheinbar mühelos hin und her zwischen dem verletzlich-leisen Ton einer betrogenen Frau und den geschmetterten Höhen einer empörten Königin. Berzhanskaya schöpft die Wärme ihres Mezzoklangs aus und spielt gekonnt mit dem stimmlichen Kontrast. Dirigent Enrique Mazzola häkelt derweil das Orchester mit spitzen Fingern durchs filigrane Gefühlsgewebe. Könnte das Duett doch ewig dauern! Nein, auch Primadonnen brauchen Pausen.
Die Deutsche Oper hat in dieser Spielzeit „Anna Bolena“ als Inszenierung der Oper Zürich von 2021 übernommen. Gaetano Donizettis Oper um die todgeweihte englische Königin ist „True Crime“ aus dem frühen 19. Jahrhundert. Das damalige Publikum war heiß auf die Ränkespiele lang verstorbener König:innen, und so landete Donizetti 1830 in Mailand mit dem Stück den größten Überraschungserfolg seiner Karriere. Schon im Jahr drauf startet die Oper in London und Paris. Ein royaler Justizskandal, ehrgeizige Frauen, ein tyrannischer König? Certo, Yes please, Absolument, riefen Adlige wie Bürgerliche in Europas Metropolen.
Donizetti gilt als Meister musikalischer Dramatik, er baute feinste Gefühlsnuancen in seine Musik ein. Das passte in eine Zeit, in der das Interesse an Kriminalität und Psyche wuchs. Opernfiguren zerbrachen neuerdings vor den Augen des Publikums: zweifelten laut, verzweifelten leise – und verloren immer öfter den Verstand.
Premiere trotz Husten
Für die Singenden heißt das: Leistungssport. Schnelle Wechsel zwischen soft und kraftvoll, hochgefährliche Sprünge nach oben. Diesem technisch so kniffligen Stück stellt sich in Berlin eine Riege hochkarätiger Solist:innen: neben Lombardi und Berzhanskaya noch der Bass Riccardo Fassi als Tyrann Henry VIII. und Tenor René Barbera als Annes Jugendliebe Percy. Barbera, am Premierenabend mitten in einer Viruserkrankung, hustet sich standhaft durch die Arien und soll fairerweise außerhalb jeder Bewertung stehen.
Aber auch Lombardi als „Anna“, hat zu kämpfen. Gleich zu Beginn packt die Sopranistin einige höhere Töne „mit Kraft“, anstatt sie souverän „kommen zu lassen“. Das kann bedeuten, dass sie stimmlich keinen guten Tag hat – und im Finale ins Schlingern geraten könnte. Dennoch ist die musikalische Qualität im Laufe der nächsten drei Stunden exquisit. Schwächen weist hingegen die Inszenierung von David Alden auf.
Unschmeichelhafte Outfits lassen des Königs junge Geliebte aussehen wie dessen Patentante
Unter visuellen Gimmicks werden die Figuren förmlich begraben, im Bühnenwirrwarr fehlen Fokuspunkte. Verschlimmert wird die überladene Optik von grellem Stadionlicht, das von unten die Bühne flutet. Schlagschatten liegen quer über Gesichtern, deren Mimik man lesen möchte. Nach jedem Blick auf die Übertitel ist das Auge verloren. Das ist anstrengend und sabotiert die Story. Dasselbe gilt fürs Kostüm: Vasilia Berzhanskaya, die 30 Jahre alt ist, steckt in derart unschmeichelhaften und ältlichen Outfits, dass die junge Geliebte des Königs von Weitem aussieht wie seine Patentante.
Intime Wahnsinnsszene
Schließlich kommt der Moment der Wahrheit: die Finalszene. Als „hardcore singing“ hat die Weltklasse-Sopranistin Diana Damrau sie mal bezeichnet. Alleingelassen von Volk und Orchester verzweifelt Anne im Kerker, die Königin ist plötzlich ein ängstliches Kind. Federica Lombardi meistert diese intime Wahnsinnsszene mit Bravour. Verletzlichkeit und Noblesse mischt sie, keinen Konsonanten verschludert sie, kein sotto voce gehauchter Ton entgleitet ihr.
Als aber dieser Moment durchgestanden ist verlangt der Komponist, dass sie als nächstes ein fulminantes Fortissimo in den Saal schmettert. So etwas bringt jede Stimme an ihre Grenzen. Da kann alles schiefgehen, auch für eine Top-Sopranistin wie Lombardi. Tut es dann auch. Lombardi verpatzt einen der letzten hohen Töne. Das Charlottenburger Publikum zeigt Größe – und feiert sie trotzdem.