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Wohnungslosigkeit in DeutschlandEine halbe Million ohne Unterkunft

Einer Erhebung zufolge ist die Zahl der Menschen, die ohne Wohnung sind, stark gestiegen. Besonders betroffen: Geflüchtete oder kinderreiche Familien.

Keine Wohnung: Mehr Menschen landen auf der Straße Foto: Philipp Schulze/dpa

Berlin taz/epd | Die Zahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland ist 2022 deutlich gestiegen. Nach den jüngsten Hochrechnungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) lag sie im vorigen Jahr bei 607.000 gegenüber 383.000 im Jahr 2021. Rund 50.000 Menschen lebten danach ganz ohne Unterkunft als Obdachlose auf der Straße.

Die starke Zunahme ist vor allem auf den Zuzug von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine zurückzuführen sowie auf die insgesamt steigende Zahl Geflüchteter im Land. Den Angaben der BAG W zufolge stieg die Zahl der Wohnungslosen unter den Deutschen um fünf Prozent und unter den Ausländerinnen und Ausländern um 118 Prozent. Der Hochrechnung für 2022 zufolge hatten 196.000 Wohnungslose einen deutschen Pass, 411.000 waren Ausländerinnen und Ausländer.

In den Jahren 2017 und 2018, nach der großen Zuwanderungsbewegung von 2015, waren die Zahlen noch höher. Der Anteil der Geflüchteten lag in diesen Jahren bei 417.000 von 651.000 Menschen beziehungsweise 441.000 von insgesamt 678.000 Menschen.

BAGW-Geschäftsführerin Werena Rosenke sagte, zwar seien die meisten der rund eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer – vorwiegend kamen Frauen und Kinder – in Wohnungen untergekommen. Doch befänden sich rund 130.000 Ukrainer weiterhin in Gemeinschaftsunterkünften. Rund sechs Prozent der Wohnungslosen sind EU-Bürger, vorwiegend aus osteuropäischen Ländern.

Hoher Anteil an Männern auf der Straße

Wohnungslose mit deutschem Pass sind zu fast drei Vierteln alleinstehende Männer. Miet- und Energieschulden, Konflikte im Wohnumfeld oder eine Scheidung sind Hauptgründe für den Wohnungsverlust. Rosenke betonte, neben Alleinstehenden seien vor allem Alleinerziehende und kinderreiche Paare gefährdet.

Steigende Mieten und die Inflation belasteten arme Haushalte zusätzlich: „Fehlender bezahlbarer Wohnraum bleibt der Hauptgrund für die Wohnungsnot in Deutschland“, sagte Rosenke und kritisierte falsche Schuldzuweisungen: „Zu sagen, wenn es die Zuwanderung nicht gäbe, gäbe es auch keine Obdachlosigkeit, treibt einen weiteren Keil in die Gesellschaft.“

Rosenke wies auch auf die anhaltende Gewalt gegen Obdachlose hin. Die Fallzahlen schwankten zwar von Jahr zu Jahr, gingen aber nicht zurück, erklärte sie. Seit 1989 hat die BAGW 626 Fälle dokumentiert, in denen Wohnungslose gewaltvoll zu Tode kamen. Im gleichen Zeitraum habe es zudem mindestens 2.350 Fälle schwerer Körperverletzung gegeben. Die Dunkelziffer sei aber vermutlich viel höher, sagte Rosenke. Die BAG W erfasse die Gewalttaten allein durch Medienbeobachtung, etwa aus Berichten in den Lokalzeitungen.

Die Hochrechnungen der BAG W weichen von den Zahlen des Statistischen Bundesamts ab. Die Unterschiede zu den seit 2022 erfolgenden jährlichen Erhebungen des Bundesamts ergeben sich daraus, dass es statistisch nur die staatlich untergebrachten Wohnungslosen ermittelt. Die BAG W bezieht nach eigenen Angaben auch Menschen ohne Wohnung ein, die vorübergehend bei Freunden oder Bekannten unterkommen und jene, die auf der Straße leben.

Die Hochrechnungen erfolgen auf Basis der schon seit Jahren erhobenen Wohnungslosen-Zahlen in Nordrhein-Westfalen und beziehen sich auf das gesamte jeweilige Jahr. Zusätzlich gibt die BAG W auch Wohnungslosen-Zahlen zu einem Stichtag Mitte des Jahres an. Demgegenüber misst das Statistische Bundesamt die Wohnungslosigkeit seit 2022 zum Stichtag 31. Januar. Es gab die Zahl der Wohnungslosen zum Stichtag 31. Januar 2023 mit 372.000 an.

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7 Kommentare

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  • Ein Sondervermögen für Wohnungsneubau und Umbau von leer stehenden Kaufhäuseren, Kasernen, Bürocentren, etc. ist jetzt angebracht. Regierung tut endlich etwas für unsere Bürger und vor dem Krieg und vor Hunger geflüchteten Menschen!



    Sonst fliegt uns der Laden bald um die Ohren!

    • @KielerSprotte:

      Dürften solche Maßnahmen nicht zu massenhaften CO2 Emissionen und weiteren Bodenversiegelungen führen?

      Ich dachte übergreifender Konsens wäre Degrowth und Rückbau.

  • "Zu sagen, wenn es die Zuwanderung nicht gäbe, gäbe es auch keine Obdachlosigkeit", ist natürlich falsch. Es gab in Deutschland auch zu Zeiten mit wenig oder gar keiner Zuwanderung immer ein gewisses Maß an Obdachlosigkeit. Die Frage ist doch, wieviel.

    Eine Quantifizierung zu dieser Behauptung wäre das Mindeste. Ebenso wie bei der gegenteiligen Behauptung, dass die aktuell sehr hohe Obdachlosigkeit nichts mit Zuwanderung zu tun habe (Rosenke nennt das "falsche Schuldzuweisungen"). Rosenke liefert dazu keinerlei Argumente, obwohl der Zusammenhang bei parallel steigenden Zahlen nahe liegt. Dass es nach der letzten großen Zuwanderungswelle 2017/18 auch bei der Obdachlosigkeit zu einem entsprechenden Hoch kam, führt der taz-Autor ja auch selbst aus.

  • Mag ja spitzfindig sein, aber 607.000 Menschen sind keine halbe Million, sondern deutlich mehr. Ich finde die Überschrift deshalb verkürzt-unglücklich.

    • @Encantado:

      Das werden schneller 1 Million sein, als uns recht ist. Das dürfte keine 2 Jahre mehr dauern, bei der Wohnbaupolitik.

    • @Encantado:

      Es sind glücklicherweise nur 50.000, wie ja auch im zweiten Satz bereits steht. Zumindest, wenn man die Worte so benutzt, wie es 99% der Bevölkerung tut.

      Man könnte auch in der Überschrift von Millionen Studenten schreiben, die keine Wohnung haben und dann im nächsten Satz erwähnen, dass sie ja zumindest ein WG Zimmer haben.

      • @Chris12:

        Wer regulär in einer WG wohnt, ist nicht wohnungslos, auch nicht "ohne Wohnung". Streng genommen auch niemand, der nur'n Zimmer hat, wenn das vertragsrechtlich entspr. ausgewiesen und damit geschützt ist; ich wusste gar nicht, dass 99% der Bevölkerung solche Amts-, Demografen- und Verbandssprache verwendet, wie ist aber auch egal, denn es gibt klare Definitionen und nach denen richtet man sich hier, soll ja nachvollziehbar sein. Für 100%. Niemand der googeln kann, hat damit ein Problem, entspr. Interesse vorausgesetzt, das sicherlich nicht 99% haben. Tendenz aber wohl steigend. Bis dahin kann man jetzt noch paar vermeintliche Haare spalten oder finden, ich finde solche Kommentare (beide) nur hilfreich im Sinne der Erklärungsgrundlage. Die Not ist für zuviele noch immer nicht recht greifbar und auch darum gibt es das Problem. Und nicht dass jede/r Studierende noch ein WG-Zimmer findet.

        Diese Zahlen sind dabei Untergrenzen, beider Gruppen. Denn auch die BAGW ist darauf angewiesen, dass sich Betroffene melden, ansprechbar oder irgendwie sichtbar sind. Auf viele trifft das gar nicht zu. Und dass die da auch nur mit Wasser kochen, sieht man ja daran, wie sie Übergriffe zählen. Zeitung! Also das ist erst recht ne Selektion. Hab ich so auch noch nicht oft gehört, in der Ehrlichkeit, aber klar was sollen sie tun. Offenbar will man das in Deutschland nicht anders erfassen, kann es nicht, oder meint mit Lesebrille und Lupe ins "Vermischte" der 90.000 Lokalblätter zu verweisen, ist im 21. Jahrhundert das höchste der Gefühle.