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Humanitäre Lage in GazaKaum Treibstoff und Hilfsgüter

Im Küstenstreifen spitzt sich die Situation weiter zu, der internationale Druck auf Israels Regierung steigt. Wie reagiert sie?

Wohin mit den Verletzten? Krankenwagen in Gaza nach einem israelischen Luftangriff am 15. November Foto: Wafa News Agency via reuters

JERUSALEM taz | Am Donnerstagabend, den 16. November, schreibt der Arzt Ghassan Abu Sitta beim Onlinedienst X: „Nicht mehr in der Lage zu operieren“. Die Al-Ahli-Al-Arabi-Klinik, das letzte noch funktionierende Krankenhaus im Norden des Gazastreifens, diene nur noch als „Erste-Hilfe-Station“. Hunderte Verwundete im Krankenhaus könnten an ihren Verletzungen sterben, fürchtet Ghassan Abu Sitta. Der Palästinensische Rote Halbmond meldet zeitgleich Angriffe der israelischen Armee auf das Krankenhaus und Panzer nahe der Klinik, auf deren Gelände es bereits vor einem Monat eine verheerende Explosion gegeben hatte.

„Wir tun, was wir können, aber wir sind nur noch vier Fachärzte und es kommen täglich etwa 200 Verletzte in die Klinik“, hatte Fadel Naim, orthopädischer Chirurg und leitender Arzt der Klinik, in einer seiner letzten Sprachnachrichten am Tag zuvor der taz gesagt. Seitdem erreichen Naim keine Whatsapp-Nachrichten mehr. Die Internet- und Telefonverbindungen sind wegen des fehlenden Treibstoffs zusammengebrochen. Auch palästinensische Journalisten können nur noch unter schwersten Bedingungen arbeiten.

Mindestens 37 sind laut des Komitees zum Schutz von Journalisten, einer NGO mit Sitz in New York, seit Kriegsbeginn getötet worden. Eine Live-Kamera der Nachrichtenagentur AFP zeigte am Morgen des 17. November dichten schwarzen Rauch über dem nördlichen Gazastreifen. Israels Armee meldete die Einnahme einer Basis des Palästinensischen Islamischen Dschihad. Der Arzt Fadel Naim hatte am Mittwoch dieser Woche, rund sechs Wochen nach dem Hamas-Überfall auf Israel, gegenüber der taz dramatische Zustände in der Klinik geschildert. „Ich arbeite seit 20 Jahren im Ahli-Krankenhaus, aber ein solches Ausmaß an Zerstörung habe ich noch nie erlebt.“ Es fehle an allem: Narkosemittel, Verbandszeug, Blutkonserven. Hilfslieferungen habe das Krankenhaus bisher nicht erhalten.

Die Hilfsgüter für die Menschen in Gaza können laut dem UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) derzeit aus Mangel an Treibstoff nicht mehr verteilt werden, daher gebe es momentan keine humanitären Lieferungen mehr über den Rafah-Grenzübergang. Pro Tag braucht es laut UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths rund 200.000 Liter Treibstoff für eine minimale Versorgung. Israel fürchtet, dieser könnte in den Händen der Terrororganisation Hamas landen. Am 16. November durfte ein Tanklaster 24.000 Liter Treibstoff nach Gaza bringen, am Tag darauf genehmigte Israel für humanitäre Zwecke die Einfuhr von Diesel mit zwei Tanklastern pro Tag aus Ägypten in den Gazastreifen.

Der Ruf nach einer Kampfpause wächst

Israels Führung wirft den extremistischen Gruppen in Gaza vor, Krankenhäuser und andere zivile Einrichtungen als Schutzschilde für ihre militärischen Einrichtungen zu missbrauchen. Die Hamas und die Krankenhausleitungen bestreiten das. Israelische Soldaten durchkämmten ab dem 15. November das größte Krankenhaus Gazas, die Al-Shifa-Klinik. Der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge befanden sich zu dem Zeitpunkt noch immer mehr als 600 Patienten in der Klinik.

In Gebäuden neben dem Krankenhaus bargen Soldaten die Leichen zweier Hamas-Geiseln: die 65-jährige Yehudit Weiss und die 19-jährige Noa Marciano. Über die anderen rund 240 Entführten ist weiterhin kaum etwas bekannt. In der Klinik selbst seien Waffen und Munition sowie der Eingang zu einem Tunnelschacht entdeckt worden. Die Angaben der israelischen Armee und der Hamas lassen sich häufig nicht überprüfen. Angesichts der humanitären Lage wächst international der Ruf nach einer Kampfpause.

Seit Beginn des Krieges wurden dem Hamas-geführten Gesundheitsministerium zufolge mehr als 11.500 Menschen in Gaza getötet. In seltener Einigkeit erließ der UN-Sicherheitsrat am Abend des 15. November eine Resolution, die mehrtägige humanitäre Feuerpausen im Gazastreifen forderte. Die Feuerpausen sollen Hilfe für die Zivilbevölkerung ermöglichen. Die USA als Israels wichtigster Verbündeter machten nicht von ihrem Vetorecht Gebrauch.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell mahnte die israelische Führung am Donnerstag dieser Woche nach seinem Besuch im Kibbuz Be’eri, einem zen­tralen Ort des Hamas-Massakers, sich nicht von „Wut aufzehren“ zu lassen. UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk sagte, die getöteten Zivilisten in Gaza könnten nicht als „Kollateralschaden“ abgetan werden. Rund drei Viertel der gut zwei Millionen Einwohner von Gaza sind seit Kriegsbeginn vertrieben worden.

Anzeichen für Ausweitung der Angriffe

Anfang der Woche wandte sich Thomas White, der Direktor des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge, an die Presse und warnte vor einem Zusammenbruch der humanitären Versorgung. In den Auffanglagern der UNO teilten sich im Durchschnitt 125 Menschen eine Toilette und mehr als 700 eine Dusche. Nötig seien 750 Lastwagen mit Hilfsgütern täglich.

Das Welternährungsprogramm (WFP) spricht davon, eine Versorgung mit Lebensmitteln und Wasser sei praktisch nicht mehr gegeben. Während das Abwassersystem in Gaza schon jetzt nicht mehr funktioniert, könnten die beginnenden Win­terregenfälle dem Küstenstreifen Überschwemmungen bringen. Die WHO hat 44.000 Fälle von Durchfallerkrankungen registriert – in früheren Jahren waren es um diese Jahreszeit 2.000.

Dass sich die israelische Führung des steigenden internationalen Drucks bewusst ist, ließ Außenminister Eli Cohen Anfang der Woche durchblicken. Sein Land habe noch zwei bis drei Wochen, um seine Militäroffensive voranzutreiben, sagte er. Dass Israel sich an die UN-Resolution halten wird, ist dennoch unwahrscheinlich. Israels UN-Botschafter Gilad Erdan bezeichnete sie umgehend als „realitätsfern“ und „bedeutungslos“.

Stattdessen gibt es Anzeichen für eine Ausweitung der Angriffe: In der Nacht auf den 16. November warf Israels Luftwaffe über Chan Yunis im südlichen Gazastreifen Flugblätter ab. Die Bewohner und die zehntausenden Vertriebenen, die dort ausharren, wurden aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen und sich in „Schutzzonen“ zu begeben.

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3 Kommentare

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  • Liebe Taz,



    Nach sehr fragwürdigen " Berichten ", zum Ukrainekrieg, im vergangenen Jahr, ändert sich die Berichterstattung wieder.



    Im vergangenen Jahr gab es sehr tendenziöse Artikel.



    Natürlich war der Agessor Putin, doch die Berichterstattung lief auf: "gute Ukrainer und böse Russen hinaus."



    Das hatte schon rassistische Züge, ich erinnere hier an die Bezeichnung " Orks" , für Kämpfer auf der russischen Seite.



    Zwischen Bericht und Kommentar wurde kaum noch unterschieden.



    In der Zwischenzeit haben sich die Wogen geglättet und die taz trennt diese Artikel erfreulicherweise wieder.



    Es gibt vereinzelt sogar Artikel, die Kritik an Selensky zulassen.



    Nun gab es im Gazakrieg sehr unterschiedliche Darstellungen. Was der Tatsache geschuldet ist, dass die Meinungen zum Konflikt weit auseinander gehen.



    Nichts gegen Meinungsvielfalt.



    Schön ist, wenn diese erkennbar als Kommentar bezeichnet wird.



    Der Vorliegende Artikel ist ein Rückschritt.



    Er kommt als Bericht daher, ist aber tendenziös.



    Besonders auffällig ist die Randbemerkung:



    " nahe der Klinik, auf deren Gelände es bereits vor einem Monat eine verheerende Explosion gegeben hatte".



    Eine weitere Erläuterungen bleibt aus .



    Neben Fotos und Abhörprotokollen, die die Israelische Armee der Öffentlichkeit zugänglich machte, haben mittlerweile diverse Geheimdienste verschiedener Länder, sowie unabhängige Stellen bestätigt, dass die Bewertung, dass es sich bei der Explosion um eine verirrte Rakete der Hamas handelt, richtig ist.



    Es wäre schön, wenn die Berichterstattung diesen Ergebnissen Rechnung tragen würde.



    Die Hamas führt auch einen Medienkrieg.



    Der ersten Fehlmeldung zur Rakete sind viele Medien aufgesessen. Es ist unnötig, eine Terrororganisation in ihrer Propaganda zu unterstützen.

  • Ist es eigentlich üblich den militärischen Gegner und die mit ihm verbundene Bevölkerung noch während der kriegerischen Auseinandersetzung mit Hilfsgütern zu versorgen. Hätten aus völkerrechtlicher Sicht die Alleierten auf einen Bomber einen Flieger mit Carepaketen losschicken müssen?

    • @Baidarka:

      Niemand verlangt, dass Israel die Palästinenser versorgt. Verlangt wird nur, dass Israel nicht verhindert, dass andere die Palästinenser versorgen.