Arzt über seine Arbeit in Gaza: „Solche Zerstörung noch nie erlebt“

Operationen ohne Betäubung und Blutkonserven: Fadel Naim muss täglich 200 Verletzte in einer Klinik versorgen, die vor dem Krieg 14 Betten hatte.

Männer in Reihen aufgestellt beten neben in weißen Tüchern gehüllten Leichen

Palästinenser beten vor dem Krankenhaus Khan Younis für die Verstorbenen Foto: Fatima Shbair/ap

Wegen der Kämpfe im Al-Schifa-Krankenhaus funktioniert derzeit nur noch die Al-Ahli-Al-Arabi-Klinik im Norden Gazas. Dort arbeitet der Orthopäde Dr. Fadel Naim mit einem kleinen Team und kaum Ressourcen weiter. Doch das kleine Haus, das vor einem Monat nach einer verheerenden Explosion in die Schlagzeilen geriet, ist der Flut an Verletzten kaum gewachsen. Der leitende Arzt Naim schildert die Lage vor Ort.

taz: Herr Naim, wie ist die Situation am Al-Ahli-Krankenhaus?

studierte Medizin an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen. Seit 2003 ist er Facharzt für orthopädische Chirurgie in Gaza.

Fadel Naim: Gestern bin ich zum ersten Mal nach draußen gegangen, um meinen Schwager in der Nähe des Krankenhauses zu begraben. Seit dem Beginn des Angriffs habe ich die Klinik nicht verlassen. Die Nachbarschaft ist dermaßen zerstört, dass ich kaum noch etwas wiedererkenne. Ich arbeite seit 20 Jahren im Ahli-Krankenhaus, aber ein solches Ausmaß an Zerstörung habe ich noch nie erlebt. Aktuell hören und sehen wir Luftangriffe und Kämpfe bis etwa einen Kilometer vom Krankenhaus entfernt. In der unmittelbaren Umgebung ist es ruhig. Die Klinik ist ein Feldlazarett geworden. Vor dem Krieg gab es 14 Betten, aktuell haben wir mehr als einhundert stationäre Patienten überall in der ­Klinik: in der Kirche, in der Bibliothek, in den Höfen. Wir haben einen Triage-Bereich eingerichtet und können nur noch in lebens­bedrohlichen Fällen operieren.

Ihre Klinik ist laut den Vereinten Nationen die einzige noch funktionierende im Norden Gazas. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Wir bekommen aktuell etwa 200 Verletzte jeden Tag. Die meisten sind Überlebende von Luftangriffen, oft mit schweren Brüchen oder Schädelverletzungen von herabfallenden ­Trümmern. Wir haben aber nur zwei funktionierende OP-Säle und können uns nicht um alle kümmern. Gestern hatten wir fünf Notfalloperationen, sieben Geburten und zwei Kaiserschnitte. Hinzu kommen Menschen mit chronischen Krankheiten wie Epilepsie oder Dialysepatienten und viele Kinder, die unter Dehydrierung oder Asthma­attacken leiden. Wir beobachten auch zunehmend Durchfall und Erbrechen wegen der schlechten hygienischen Bedingungen.

Wie steht es um das Personal in Ihrem Krankenhaus?

Wir sind aktuell noch vier Fachärzte. Dazu helfen uns viele Freiwillige und Pfleger, die in die Klinik gekommen sind. Es ist ein sehr kleines Team für eine überwältigende Anzahl an Fällen. Aber selbst wenn wir die Operationen durchführen, verlieren wir Patienten, weil uns die Vorräte an medizinischem Material ausgehen.

Wie ist die Versorgungslage im Krankenhaus derzeit?

Es fehlt vor allem an Narkose- und Schmerzmitteln. Aktuell operieren wir nur noch in den kritischsten Fällen mit Betäubung, um unsere geringen Vorräte zu schützen. Der Schmerz, den ein Patient bei einer Operation ohne Betäubung ertragen muss, ist kaum vorstellbar. Nach den OPs entzünden sich zudem viele Wunden, weil wir sie ohne steriles Verbandsmaterial und Desinfektionsmittel nicht ausreichend versorgen können. Immer wieder verbluten Patienten während der OPs, weil wir keine Blutkonserven mehr haben. Wegen der Kämpfe um das Schifa-Krankenhaus und die zentrale Blutbank können wir keinen Nachschub besorgen. Auch die Beutel, die wir bräuchten, um Blut von Spendern zu nehmen, sind verbraucht.

Bekommt das Krankenhaus aktuell Unterstützung?

Wir haben die Weltgesundheitsorganisation und das Rote Kreuz um Hilfe gebeten, aber bisher keine Hilfslieferungen erhalten. Und wir haben die in Nord-Gaza verbliebenen Menschen nach Spenden gefragt. Sie bringen uns, was sie haben, doch es reicht bei weitem nicht aus. Wir haben weder mit der israelischen Armee noch mit der Hamas Kontakt und von keiner Seite irgendwelche Unterstützung bekommen.

Können sich die Menschen in Richtung Süden in Sicherheit bringen?

Es gibt kaum Kontakt mit Krankenhäusern im Süden, weil die Internet- und Telefonverbindungen ständig ausfallen. Wir haben manche Patienten ohne Absprache in andere Häuser überwiesen, doch der Weg ist extrem gefährlich und oft kommen die Krankenwagen im Norden nicht mehr durch. Einige versuchen, auf eigene Faust in den Süden zu gelangen. Manche schaffen es, andere kommen wieder ins Krankenhaus zurück.

Wie lange werden Sie selbst noch bleiben?

Wenn ich gehe, wer kümmert sich dann um meine Patienten? Meine Familie ist aktuell im ­Süden von Gaza und ich habe noch nicht entschieden, an welchem Punkt ich selbst gehen soll. Aber ich weiß, dass ich hier mehr als 20 Patienten mit Verletzungen an der Wirbelsäule oder im Beckenbereich habe, die wir nicht bewegen können. Ob ich bleibe und mein Leben gefährde oder gehe? Ich hoffe, dass ich diese Entscheidung nie treffen muss.

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