Pazifische Auster hilft der Nordseeküste: Von invasiv zu produktiv
Die Pazifische Auster könnte helfen, deutsche Küsten im Klimawandel zu stabilisieren. Das haben ForscherInnen des Projekts BIVA-WATT herausgefunden.
Das Team um den Küsteningenieur Tom Hoffmann hat ein solches Riff in der Kaiserbalje untersucht. Das ist ein Priel nördlich der zwischen Wilhelmshaven und Bremerhaven gelegenen Halbinsel Butjadingen. Zwischen 2020 und 2022 haben sie im Frühling und im Herbst mithilfe von Drohnen, die in 40 Metern über das Niedrigwasser flogen, das Riff fotografiert. Die Bilder hatten eine Auflösung von 1,2 Zentimetern, so dass Veränderungen in Fläche, Volumen und Höhenwachstum gut zu analysieren waren.
Die Auswertung dieses Teils des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts ist nun abgeschlossen, und es steht fest: Das Wachstum des Austernriffs kann mit dem steigenden Meeresspiegel der Nordsee von derzeit bis zu vier Millimetern pro Jahr mithalten. Das durchschnittliche jährliche Höhenwachstum des Riffs betrug in den untersuchten zwei Jahren 1,5 Zentimeter.
Gebildet wird das Riff von der Pazifischen Auster (Crassostrea gigas). Sie wurde bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Aquakultur in die Nordsee gebracht. Diese künstliche Zucht fand unter anderem nördlich von Sylt und in der niederländischen Oosterschelde statt. In den 1990er-Jahren tauchten dann die ersten Exemplare außerhalb des Drahtkorbs auf, und die Pazifische Auster wurde zur invasiven Art.
Laut Christian Buschbaum, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Wattenmeerstation Sylt des Alfred-Wegner-Instituts (AWI) für Polar- und Meeresforschung, hat die Population Anfang der 2000er-Jahre stark zugenommen, da eine Reihe milder Winter und warmer Sommer die Vermehrung und Ausbreitung der Austern im Ökosystem begünstigt hat. „Aber irgendwann kommen die Regelmechanismen zum Tragen“, sagt der Küstenforscher und spielt auf Parasiten, Krankheiten und heimische Fressfeinde an.
Auch kalte Winter hätten immer wieder für Einbrüche in der Population gesorgt. Die neuen Untersuchungen der BIVA-WATT-Studie nehmen darauf Bezug und verweisen auf eine schnelle Erholung der Population nach einer Phase der Trockenlegung bei Temperaturen um den Gefrierpunkt im Beobachtungszeitraum. Küsteningenieur Hoffmann hält die Austern auch bei Sturm und Wellen für sehr widerstandsfähig: „Die Austern zementieren sich ja richtig fest, da sieht man eher, dass das Sediment rundherum abgetragen wird.“ Auch an Nahrung mangelt es nicht, denn die Art filtert Plankton aus dem Wasser.
Potenzielle Fressfeinde sind überschaubar. AWI-Meeresökologe Buschbaum nennt Strandkrabben und Seesterne, die sich von kleineren Austern ernähren. Handflächengroße Austern können dann noch von Vögeln geöffnet werden, aber größere Exemplare seien aufgrund der immer härteren Schale nur schwer anzugreifen. Daher sagt Buschbaum mit Blick auf die Pazifische Auster: „Ich glaube, dass der Siegeszug im Wattenmeer noch nicht vorbei ist.“
Die Pazifische Auster ist kein Einzelfall, wenn es um neue Arten im Wattenmeer geht. Dieses Biotop existiert seit ungefähr 8.000 Jahren und ist damit vergleichsweise jung. Es ist laut Buschbaum eher artenarm, und der Raum ist nicht vollständig besetzt. Zu den laut Naturschutzbund etwa 10.000 Tier- und Pflanzenarten kamen in den vergangenen 100 Jahren daher einige neue, invasive hinzu. Nach Angaben des AWI sind das im dauerüberfluteten Bereich neben der Pazifischen Auster auch die Meerwalnuss, der Pazifische Gespensterkrebs und die Amerikanische Pantoffelschnecke.
Befürchtungen wie die Verdrängung einheimischer Spezies und den Verlust bestimmter Ökosystemfunktionen haben sich bei der Pazifischen Auster laut Buschbaum bis heute nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Haben sich die Larven der Auster anfangs vorwiegend auf der heimischen Miesmuschel angesiedelt, wählt sie nun zunehmend die verbliebenen Schalen ihrer Artgenossen als Substrat, um einen festen Grund im Wattenmeer zu erhalten. Die Miesmuschel nutzt dies und findet unter den sich immer höher auftürmenden Austern Platz. Dort hat sie zwar weniger Zugang zu Nahrung, ist aber besser vor Fressfeinden geschützt und überlebt.
Zudem bilden die Riffe sogenannte Gezeitentümpel: In den Vertiefungen der Austernstrukturen sammelt sich Wasser, sodass der Bereich bei Ebbe nicht trockenfällt. Dort siedeln Buschbaum zufolge andere Arten, die sonst nur im dauerüberfluteten Teil des Wattenmeeres vorkämen. Zudem sind Austernriffe dank einer Dichte von bis zu 2.000 Tieren pro Quadratmeter nicht nur stabil und langlebig, sondern auch heterogen. Sie finden sich auch auf künstlichen Untergründen. Der Ökologe sagt: „Ich kenne kaum eine Hafenmole an der deutschen Nordseeküste, die keine Auster zeigt.“
Ursprünglich in der Region beheimatet war, der Name deutet es an, die Europäische Auster (Ostrea edulis). Sie ist Mitte des letzten Jahrhunderts durch Überfischung ausgerottet worden. Seit 2016 gibt es Versuche der Wiederansiedlung. Meeresbiologin Bernadette Pogoda vom AWI untersucht sie und bescheinigt der Europäischen Auster eine gute Entwicklung in Bezug auf Wachstum und Fortpflanzung. Eine Konkurrenz der in bis zu 40 Metern Tiefe lebenden Art mit der im Gezeitenbereich siedelnden Pazifischen Auster ist laut Pogoda nicht zu erwarten: „Sie besetzen unterschiedliche ökologische Nischen.“
Die Biologin verweist mit Blick auf die USA auf Praktiken, Austern als lebendigen Küstenschutz gezielt anzusiedeln, um Erosion zu verhindern und Strömungen zu beruhigen: „Das funktioniert in vielen Regionen sehr, sehr gut.“ Für ein solches Vorgehen mithilfe natürlicher Lösungen bräuchte es in der hiesigen Praxis jedoch ein Umdenken. Denn der Fokus auf „starre Infrastruktur“ wie etwa Deiche oder Steinschüttungen stehe oft noch immer oben auf der Agenda.
Im komplexen System des Schutzes der deutschen Wattenmeer-Küste könnte in Zukunft aber auch die Pazifische Auster eine Rolle spielen. Sie ist widerstandsfähig und die Riffstrukturen können aufgrund der rauen Beschaffenheit Strömungsenergie mildern. Küsteningenieur Hoffmann weist der Art eine zumindest unterstützende Schutzfunktion zu. Sie könnte die Küste zwar nicht im Alleingang retten, aber lokal durchaus wertvolle Beiträge leisten, findet er.
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