Nahostkonflikt im Berliner Alltag: Aus der Wolke ragt ein Zeigefinger
Seit dem Hamas-Angriff auf Israel ist binäres Denken Trend. Könnte das auch an der Verschiebung unserer Idee von innen und außen liegen?
A m Freitag in der U-Bahn am Hermannplatz: Die Passagiere haben Stöpsel im Ohr und Screens vor den Augen – sie haben sich eine Welt gebaut, die sich das Außen vom Leib hält. Doch oft dringt es durch das Innen zurück. So wie bei der Diskussion über den Nahostkonflikt in meinem Gruppenchat.
Schwarzweißdenken ist viral gegangen. Ich glaube, es ist die Verstrickung von innen und außen, die uns auseinandertreibt, aber auch hierhergebracht hat. War bei meinen Vorfahren innen und außen klar definiert, ist in meiner Generation das Außen innen und das Innen außen.
Bin ich Teil des Konflikts oder nur Beobachtender? Wo bin ich, wenn mein Körper hier sitzt, während mein Internetselbst in einer schwarzen Wolke über Israel schwebt, woraus ein drohender Zeigefinger ragt? Komme ich in den Himmel, wenn ich die Fragen zum Schweigen bringe und tanzen gehe?
In jedem Fall entscheide ich mich gegen die PAN-Labelnacht im Berghain und dafür, das Wochenende möglichst außerhalb utopischer Wirklichkeiten zu verbringen. Ausgehen und rumgehen.
Dennoch mache ich mich am Samstagabend auf den Weg zur Julia Stoschek Collection. Gezeigt wird der Film „Remote“ der Künstler*innen Mika Rottenberg und Mahyad Tousi. Er handelt von fünf Frauen, die in verschiedenen Metropolen leben und durch geheime Portale in ihren Wohnungen miteinander verbunden sind. Ungeahnte Verstrickungen, da war doch was.
Mit Sprache gepolstert
Im Bus sage ich dem Busfahrer hallo und er nichts. Mein Lächeln friert ein und trifft eine Frau, die zurücklächelt. Ich versuche zu zeigen, dass ich sie gar nicht adressiert hatte, und schäme mich für das selektive Emotionsmanagement.
Auf dem Bus steht in leuchtenden Lettern: „Koscher, halal und vegan. Falafel, Salami und Seitan. […]. Uns schmeckt Vielfalt im Job.“ Ich muss an den Satz von Enis Maci aus „Eiscafé Europa“ denken: „Wenn die Zustände außen zu hart werden, werden sie innen mit Sprache gepolstert, bis alle vergessen haben, dass es sie gibt.“
Seit dem Krieg ist selbst das nicht mehr der Fall – wie so oft, wenn Leute vom sicheren Hafen Westeuropas aus weit entferntes Unglück in ihr Nahfeld hineinkopieren, um ungestört Betroffenheit zu inszenieren. Sprache ist ungemütlich, gefährlich geworden. Es wurden Rasiermesser darin versteckt.
Ob in der Sonnenallee, wo der Konflikt in der Luft hängt wie das Tränengas der letzten Tage, oder im privaten Gruppenchat, stets soll ich mich bekennen für eine Seite. Jeder Satz soll stets einem anderen Satz vorausgehen, der den folgenden wiederum relativiert oder rechtfertigt.
Wirklichkeitsstream ohne Werbepause
Als seien wir alle Diplomaten, die Regierungserklärungen abgeben. Als seien wir keine ambiguen Wesen, die das Leiden und die Wut unserer jüdischen und arabischen Freund*innen, mit denen wir hier sonst Falafel essen, nicht nachvollziehen können. Als lebten wir nicht zugleich im Innen und Außen.
Ich steige aus dem Bus, doch der Film hat bereits begonnen. Kein Einlass mehr. Also streune ich herum wie ein Gast auf der Suche, irgendwo fest zu werden. Am Kanal in Kreuzkölln gefallen sich Leute in eitler Wildheit. Jemand verkauft selbst gemachte Cocktails, vom Lastenrad des Pfandsammlers dröhnt Reggaeton. Die Leute wollen was erleben, die Leute erleben was, sie gehen in die Clubs und ich nach Hause.
Am Sonntagmorgen kapituliert mein inneres Chaos vor dem zenhaften Vibe eines Cafés. Meine Lieblingsbarista zeichnet Herzen in den Milchschaum für frisch Geduschte in geiler Kleidung. Sie leuchten, als hätten sie gerade Taschengeld bekommen, und sagen: „Manchmal rauche ich, aber nur auf Partys“ oder „Freitag war ich bis 22 Uhr im Office“.
Ihre Sprache wirkt so beruhigend wie bedrohlich – ich suche nach versteckten Klingen. Das Nervensystem streamt die Wirklichkeit ohne Werbeunterbrechung.
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