Jurist über Hamburger Allgemeinverfügung: „Das Verbot ist zu weit gefasst“

Hamburg hat ein pauschales Verbot für pro-palästinensiche Demonstrationen ausgesprochen. Jurist Michael Wrase hält das für rechtlich problematisch.

Menschen halten auf einer Kundgebung Schilder hoch

Versammlung am Freitag vergangener Woche in Hamburg-St. Georg, zu der die Schura aufgerufen hatte Foto: Marcus Brandt/dpa

taz: Herr Wrase, wie bewerten Sie die Hamburger Allgemeinverfügung, die sogenannte Pro-Palästina-Demonstrationen über einen längeren Zeitraum untersagt?

Michael Wrase: Insgesamt ist diese Verfügung weit formuliert und sehr allgemein gehalten. Ohnehin sind pauschale Versammlungsverbote problematisch, denn eigentlich darf es Demonstrationsverbote nur auf Basis von Einzelfallprüfungen geben. Nun sind alle pro-palästinensischen Demonstrationen verboten, die nicht vor einem bestimmten Zeitpunkt angemeldet wurden. Dabei gibt es schon Urteile des Bundesverfassungsgerichts, in denen es klarstellt, dass das Versammlungsrecht auch für kurzfristig angemeldete Demonstrationen gilt.

Die Versammlungsbehörde spricht von „pro-palästinensischen“ Aufzügen – ist das eine legitime Verallgemeinerung?

Es gilt der Bestimmtheitsgrundsatz – also habe ich hier schon starke Bedenken, denn das ist viel zu weit gefasst: Darunter können schließlich Demonstrationen fallen, die eine einfache Solidarität mit den Menschen in Gaza fordern oder sich für eine Zwei-Staaten-Lösung einsetzen, bis hin zu solchen Demonstrationen, die die Terrorakte der Hamas feiern. Aber nur letztere rechtfertigen ein Verbot.

Was definiert die „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“, weswegen in Hamburg die Demonstrationen verboten wurden?

Am 15. Oktober verbot die bei der Hamburger Polizei angesiedelte Versammlungsbehörde alle Versammlungen, die „inhaltlich einen Bezug zur Unterstützung der Hamas oder deren Angriffe auf das Staatsgebiet Israels aufweisen“.

Vier Mal verlängerte die Behörde das Verbot, zuletzt am Samstag. Sie gilt nun bis einschließlich Mittwoch, den 1. November.

Polizeirechtlich gibt es dazu klar definierte Tatbestandsmerkmale, wenn also Verstöße gegen Strafgesetze erwartet werden, die die Veranstaltung prägen.

Ist relevant, ob Straftaten von einigen oder von vielen begangen werden könnten?

Ein Verbot kann nicht damit begründet werden, dass sie von einzelnen Teilnehmern begangen werden könnten. Es muss schon davon ausgegangen werden, dass es die Veranstalter darauf anlegen oder es billigend in Kauf nehmen, dass antisemitische Parolen verbreitet werden. Oder dass Straftaten von der versammelten Menschenmenge ausgehen.

Die Versammlungsbehörde verweist auch auf die antisemitischen und die Hamas feiernden Demonstrationen in Berlin – würden Sie so einen Verweis als legitim ansehen?

Ganz klar: Nein. Es braucht eine konkrete Gefährdungseinschätzung vor Ort. Und die muss belegt werden. Vor dem Verwaltungsgericht Berlin etwa legte die Polizei Belege vor, dass die Veranstalter einer Demonstration der Hamas nahestehen. Eine rein pauschale Einschätzung reicht nicht aus.

Die Hamburger Versammlungsbehörde hat aber nicht einzelne Demonstrationen verboten, sondern gleich eine Allgemeinverfügung über einen längeren Zeitraum erlassen – geht das?

Die Versammlungsfreiheit gilt in jedem Fall, generelle Verbote über einen längeren Zeitraum sind eigentlich nicht haltbar. Da bräuchte es schon eine besondere Gefährdungslage, dass also die öffentliche Sicherheit nicht anders gewährleistet werden kann. Da könnte man etwa an tagelange Straßenkämpfe denken, wobei das Bilder sind, die uns eher an Zeiten der Weimarer Republik erinnern.

Am Ende dreht es sich juristisch immer um die Frage, ob ein Verbot verhältnismäßig ist, oder?

Bei pauschalen Verboten ist die Verhältnismäßigkeit oft nicht gegeben. Es muss schließlich ausgeschlossen werden, dass es keine milderen Mittel gibt, dass also etwa die Veranstalter strenge Auflagen erhalten.

Eine von der Schura organisierte Demonstration war zuletzt unter vielen Auflagen genehmigt worden. Hat es noch mit Meinungsfreiheit zu tun, wenn die Versammlungsbehörde sogar dahingehend Vorschriften machen, welche Parolen okay sind und welche nicht?

Es hängt davon ab, ob zum Beispiel eindeutig strafbare Parolen gerufen werden sollen, die unter den Paragraf 130 der Strafgesetzbuchs fallen – also der Volksverhetzung. Wir sehen aber, etwa in Berlin, dass Behörden teilweise dazu tendieren können, den Rahmen zu weit zu fassen. Sinnvoll, allerdings ungewöhnlich, können aber solche Auflagen durch die Versammlungsbehörde schon sein. Und die können im Übrigen auch Veranstaltern eine gewisse Sicherheit bei der Durchführung geben.

Die besagte Demonstration von der Schura wurde abgebrochen, weil manche Teilnehmer „Free Palastine“ skandierten. Da sind wir doch weit entfernt von Straftaten wie Beleidigung oder Volksverhetzung.

Das ist eine Äußerung, die ganz unterschiedlich interpretiert werden kann: Einerseits gibt es eine militante Organisation, die sich so nennt. Aber man kann den Ruf auch so interpretieren, dass es schlicht eine Forderung zur Umsetzung des Völkerrechts ist, im Sinne der Zwei-Staaten-Lösung. Das ist ein bisschen so wie bei der Parole „Soldaten sind Mörder“. Diese Parole ist, so hat es das Bundesverfassungsgericht festgestellt, eine zulässige pazifistische Äußerung, im Übrigen auch ein Zitat von Kurt Tucholsky, kann aber unter bestimmten Umständen den Charakter einer Beleidigung haben, wenn ich das zum Beispiel einem Soldaten ins Gesicht sage. Grundsätzlich ist aber von der Meinungsfreiheit auszugehen.

ist seit 2016 Professor für Öffentliches Recht an der Universität Hildesheim. Derzeit forscht er am Wissenschafts­zentrum Berlin (WZB).

Die Versammlungsbehörde argumentiert in Hamburg letztlich, dass sich der Kontext geändert habe, es also einen Krieg zwischen Israel und der Hamas gebe, vor dessen Hintergrund derlei Parolen zu sehen seien. Ist das juristisch zulässig?

Natürlich ist der konkrete Konflikt der Ausgangspunkt, aber das bedeutet nicht, dass sich viel daraus ableiten ließe. Es ist ein komplexer Konflikt, der nicht ausschließlich schwarz-weiß ist. Sinn der Versammlungsfreiheit ist, dass unterschiedliche Positionen geäußert werden dürfen – dass eine Kontroverse auch auf der Straße sichtbar wird.

Demonstrationen können auch ein sinnvolles Ventil für Wut sein.

Es mag Zufall sein: Auch in Berlin gab es erst ein generelles Verbot und in diesen Tagen kam es zu Ausschreitungen. Seitdem Demons­trationen zugelassen wurden, hat sich die Lage ein wenig beruhigt. Ich habe den Eindruck: Zuvor gab es viel Wut und auch Hass, aber die staatlichen Verbote haben das nicht besser gemacht.

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