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Charkiwer Schule für FotografieIronische Prise, subtiler Trotz

Experimentell ist die Fotografie der Charkiwer Schule, wie das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt. Die Exponate wurden aus der Ukraine evakuiert.

Ausstellungsansicht „Ukrainian Dreamers“ mit u.a. der Serie „Sots Arts“ von Boris Mikhailov Foto: Marek Kruszewski, Kunstmuseum Wolfsburg

Zunächst stehen die betroffenen Menschen im Vordergrund, wenn ein Krieg ausbricht. Das gilt jetzt, seit dem erschütternden 7. Oktober 2023, für den Nahen Osten und seit fast 600 Tagen für die Ukraine. Aber auch Kulturgüter sind im Krieg bedroht. Oft braucht es dann den Mut Einzelner, um etwa Kunstwerke rechtzeitig außer Landes zu bringen. Und wenn diese an einem fremden Ort nicht nur ein sicheres Depot finden, sondern auch öffentlich gezeigt werden, kann sich für das neue Publikum ein unbekannter Schatz öffnen.

Das passiert gerade, in der ersten institutionellen Ausstellung in Deutschland mit Fotografie der Charkiwer Schule. Die Schau „Ukrainian Dreamers“ im Kunstmuseum Wolfsburg ist der Auszug aus rund 5.000 Fotografien und über 70.000 Negativen, die Sergiy Lebedynskyy wenige Wochen nach Kriegsbeginn als Rückfracht in den Transportern humanitärer Hilfe aus seiner Heimatstadt Charkiw nach Wolfsburg (und auch Österreich) brachte. Der Ingenieur lebt und arbeitet schon länger in der Autometropole. Und seit einigen Jahren setzt er sich für die Bewahrung dieses großen fotografischen Erbes von Charkiw ein, das bis heute eine ästhetische Schule begründet hat.

Wäre alles planmäßig verlaufen, so hätte in Charkiw 2022 das von Lebedynskyy vorangetriebene Moksop – Museum of Kharkiv School of Photography eröffnet. Es wäre das erste Museum für Fotografie in der Ukraine gewesen. Nun sprang das Kunstmuseum Wolfsburg in die Bresche, holte im letzten Herbst das gesamte Material aus Lebedynskyys häuslichem Zwischenlager in sein Depot und ließ ihn auch diese tolle Ausstellung kuratieren.

Die bietet einen Überblick über vier Generationen aus insgesamt gut 40 Fotokünstler:innen, die ab den 1960er Jahren mit einfachen Mitteln und umso mehr experimenteller Fantasie die strenge Kontrolle der sowjetischen Kulturbehörden unterliefen. In zahlreichen, auch konkurrierenden Gruppen formiert, wurden sie zu einem lokalen, sehr eigenständigen „Phänomen“, so Sergiy Lebedynskyy.

Scheinen energisch aus etwas ausbrechen zu wollen, die Nackten aus der Serie „Hexensabbat“ (1988) Foto: Roman Pyatkovka

Verschiebung der Blickwinkel

In den 1990er Jahren prägte die Kunsthistorikerin Tetyana Pavlova die Bezeichnung als Charkiwer Schule der Fotografie. Ihr Mann Evgeniy Pavlov, ein Vertreter der Schule, arbeitet seit den 1980er Jahren noch mit fotografischen Montagen. Jüngste Generationen wie der Zusammenschluss SOSka beziehen seit 2005 Video und Performance mit ein. Sie sind dann das dynamische Ausdrucksmittel einer ukrainischen Gesellschaft im Um- oder auch Aufbruch.

Nicht das plakative Aufbegehren wählte die Charkiwer Schule zu ihrer Methode, sondern die feine Verschiebung der Blickwinkel, der Sujets oder die Verfremdung fotografischer Techniken wie konventioneller Aufgaben. Die Ergebnisse sind oft dunkel in der Stimmung und melancholisch im Ausdruck. Technisch reichen sie von der handwerklichen Collage – einer osteuropäischen Traditionslinie der surrealistischen Fotografie der 1930er Jahre – über die bewusste Fehlbelichtung, Einsatz längst abgelaufenen, analogen Materials aus Sowjetzeiten oder nachträgliche Kolorierung.

Die Aktfotografie war Tabu zu Sowjetzeiten und wurde als Pornografie geahndet, die Charkiwer Schule für Fotografie inszenierte Nacktheit indes gern. Auf den Aufnahmen in Roman Pyatkovkas Serie „Hexensabbat“ von 1988 wollen die Ungekleideten mit ihren exzessiven Bewegungen dann förmlich aus der Sowjetunion herausspringen. Und stets blitzt bei diesen Bildern eine Prise Ironie durch, die wohl subtilste Waffe gegen jegliche Form staatlicher Regulierung.

Postsowjetische Agrarlandschaften

Oft begannen die Charkiwer Fotokünstler mit bezahlten Aufträgen. Sie reproduzierten, retuschierten und kolorierten alte Fotografien gemäß Kundenwunsch, um dann ganz eigene Bilder daraus zu entwickeln. Viktor und Sergiy Kochetov etwa, Vater und Sohn, zogen Aufnahmen im ungeschönten Schwarz-Weiß von trotlosen postsowjetischen Agrarlandschaften heran. Danach griffen sie zum Farbpinsel, um nur die typischen Kopftücher der Bäuerinnen in ein intensives Rot zu tauchen.

DIe Ausstellung

„Ukrainian Dreamers. Charkiwer Schule der Fotografie“: Kunstmuseum Wolfsburg,

bis 7. Januar 2024

Meister dieser Bildfindung ist der mittlerweile 85-jährige Boris Mi­khailov. Er ist als einer der wenigen der Charkiwer Schule international bekannt. 2015 erhielt er den Kaiserring Goslar. In Wolfsburg sind seine „Sots Arts“ zu sehen, derart stark kolorierte Aufnahmen von offiziellen Feiern aus den sowjetischen 1970ern etwa, dass sie ins Karikaturenhafte kippen. Dazu gesellt sich eine Wandprojektion, die im Fortlauf zwei Farbdias aus Mikhailovs Serie „Yesterday’s Sandwich“ übereinanderlagert – eine Frau im sommerlichen Mini, eine andere mit dicker Salami in der Hand. Sie sind der humorvolle, bildliche Kommentar zu einer widerständigen Kulturtechnik, nämlich der, zwischen den Zeilen zu lesen.

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