Stillstand der Volkswagen-Bänder: Wachstumsinfarkt

Bei VW standen für kurze Zeit die Bänder still. Das bedeutet Verlust. Unsere Autorin arbeitete selbst am Band und weiß: Jede Pause ist willkommen.

Hände eines Arbeiters

Hände eines Arbeiters bei VW in Wolfsburg Foto: Foto: Thomas Koehler/imago

Alles Unerwartete kann in der Monotonie der Bandarbeit einen Segen darstellen. Wenn ein Kollege einen Fehler beim Verschrauben macht und das Band deswegen angehalten werden muss, funkeln die Augen aller anderen. Auch meine, als ich 2016 einige Monate am Band von Daimler-Benz arbeite. Man kann sich dann hinsetzen, ein kurzes Gespräch führen, vielleicht aufs Telefon schauen, eine rauchen gehen.

Bei VW läuft die unendliche Produktion seit Donnerstag wieder, nachdem es am Tag zuvor zu einem Stillstand kam, von dem weltweit Produktionshallen von VW und Audi betroffen waren. Wer oder was hinter dem IT-Fehler steckt, der die Bänder lahmlegte, ist bis Redaktionsschluss unklar. War es eine einfache Panne? Oder war es, auch wenn VW das derzeit ausschließt, doch ein Angriff von außen?

Während einige X-Nutzer_innen den Verdacht äußern, dass Putin seine Finger im Spiel hatte, um Deutschland wirtschaftlich zu schaden, vermuten andere einen Robert-Habeck-Hack – nur so sei schließlich die Autoindustrie zu stoppen.

Cyberkriminalität ist ein ernstzunehmendes Thema. Und doch erlaubt der Vorfall eine utopische Träumerei: Schön wäre, wenn eine nette Hackergruppe dahinterstecken würde, die die Arbeiter_innen entlasten will.

Deutschland: Land der Leistung

Die Pause sei ihnen gegönnt, doch ein weiteres Mal sollte man nicht mit ihr rechnen. Denn Deutschland ist eigentlich ein Land der Leistung: Wachstum ist das Ideal, Stillstand der schaurige Albtraum. Dass Produktionsbänder anhalten, ist fast unmöglich. Sie laufen wie Venen und Arterien durchs Land, statt Sauerstoff transportieren sie Abgase. Wird der Fluss dieser Bänder angehalten, kommt es zum Wachstumsinfarkt.

Die, die am VW-Band standen, werden dennoch froh gewesen sein, als es grundlos anhielt. Stundenlang steht ein Arbeiter sonst an seinem Posten und macht die immer gleichen Bewegungen. Für jedes Auto hat er etwas mehr als eine Minute, bis sich die nächste Karosse nähert und dieselben Arbeitsschritte von ihm fordert.

Nach etwa zwei Stunden darf er die Station wechseln, soll nun nicht mehr die Fenster-Airbags verschrauben, sondern die Heck-Stoßdämpfer der nächsten hundert Autos einsetzen. Wenn er Pech hat, wird er stundenlang Teile über der eigenen Kopfhöhe verschrauben müssen.

Dem Takt der Bänder folgen

So rotiert er in seiner Schicht durch drei oder vier Stationen. Am Tag darauf auch. Dann wieder. Tag für Tag, Woche für Woche. Und das macht er 20, 30, 40 Jahre lang, vielleicht in der Nachtschicht. Wenn er dem Takt der Bänder nicht mehr folgen kann, wird er in Frührente geschickt.

Wie repetitiv und gnadenlos Bandarbeit wirklich ist, kann man sich kaum vorstellen, wenn man noch nie am Band stand. Für Anfänger gehören blaue Flecken und Muskelkater zur Einarbeitungsphase. Die Bewegungen sind später automatisiert und könnten fast meditativ sein, wenn da nicht der Lärm und die omnipräsenten Augen der Meister wären, die durch die Hallen schleichen und nach dem Rechten sehen.

Von den Arbeiter_innen ist große Konzentration gefordert. Ablenkungen, wie etwa Musik hören, sind Tabu. Telefone sind in den Schließfächern zu lassen, auch wenn sich nicht alle an die Regel halten.

Kleine und große Verstöße

Und während die einen in den Produktionshallen kleine Regeln missachten, um den monotonen Arbeitsalltag etwas erträglicher zu gestalten, werden in den Chefetagen Verstöße anderen Kalibers begangen.

Am Dienstag gab es Razzien in VW-Vorstandsbüros und verschiedenen Privatwohnungen, da die Staatsanwaltschaft vermutet, dass die Betriebsratsmitglieder zu hohe Gehälter bekommen haben. Da wirkt es fast schicksalhaft, dass am Tag darauf die Bänder stehen bleiben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.