Historikerin über Architektur im Krieg: „Boom an patriotischen Tattoos“

Was macht der Krieg mit der Stadt? Forscherin Iryna Sklokina über Erinnern, Widerstand – und ob die komplexe Architekturgeschichte der Ukraine neu zu deuten ist.

Ein schwer beschädigtes Gebäude mit aufwendig gestalteter neoklassizistischer Fassade

Konstruktivistisch, stalinistisch: der im März bombardierte Bau der Regionalverwaltung in Charkiw Foto: Evgen Kotenko/imago

taz: Iryna Sklokina, die Regionen Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja wurden am vergangenen Freitag von Russland scheinannektiert. Ist in ihren Städten irgendein Widerstand sichtbar?

Iryna Sklokina: Das einzige große Zentrum, das nach der vollständigen Invasion besetzt wurde, ist Cherson. In den ersten Monaten gab es dort massive proukrainische Kundgebungen. Jetzt gibt es eine aktive Untergrundbewegung. Plakate und Flugblätter zeigen diesen halb versteckten Kampf im öffentlichen Raum. Proukrainische und dann wieder prorussische Wandbilder werden gemalt und wieder übermalt.

Menschen scheinen auch mit bestimmten Modecodes wie ukrainisch-volkstümlichen Mustern ihrem Protest Ausdruck zu verleihen.

Oder mit Tätowierungen. In der Ukraine gibt es derzeit einen Boom an patriotischen Tattoos. Das ist aber sehr gefährlich in den besetzten Gebieten. Findet das russische Militär bei den üblichen Personenkontrollen ein Tattoo oder irgendein Objekt, das sich auf die Ukraine bezieht, drohen Folter und selbst Mord. Als das Massengrab in Isjum freigelegt wurde, fand man an einer Leiche ein blau-gelbes Armband. Das löste eine heftige Reaktion in den sozialen Medien aus: Menschen posteten ihre eigenen blau-gelben Armbänder.

37, ist Historikerin und forscht am Zentrum für Stadtgeschichte Ostmitteleuropas in Lwiw über das industrielle Erbe in der Ostukraine und die politische Kultur der Stadt. Sie promovierte in Kiew über „Offizielle sowjetische Politik der Erinnerung an die nationalsozialistische Besetzung der Ukraine, 1943–1985“.

Objekte wie Armbänder werden zu verbindenden Symbolen des Kriegs?

Ja. Wie die Gegenstände auf den Gräbern der Opfer oder auch Teile von militärischer Ausrüstung wie Waffen oder Kappen. Ohnehin haben die Gräber das Landschaftsbild verändert, auf beiden Seiten. Richtige Beerdigungen sind in den besetzten Gebieten nicht möglich. Die Menschen müssen ihre Angehörigen in Innenhöfen, manchmal auf Kinderspielplätzen begraben. Das erinnert an den Vernichtungskrieg der Nazis, als man die vielen Leichen einfach liegen ließ. Die Opfer des Holocaust zum Beispiel wurden nach 1945 häufig nicht würdig umgebettet. In Sowjet­zeiten mangelte es dafür an Ressourcen und am Willen, das sozialistische Projekt richtete sich schließlich gen Zukunft. Noch heute suchen in der Ukraine wie auch in Russland NGOs nach Überresten der Opfer, man findet sie in Wäldern oder im Garten, wenn man Kartoffeln anpflanzen will. Und jetzt überlagern sich die alten und neuen Schichten der Toten.

Putin sieht eine gemeinsame Vergangenheit von Russland und der Ukraine als Legitimation für seine Invasion. Aber in diesem Krieg lässt er das kulturelle Erbe vielmehr ganz zerstören, das russisch-orthodoxe Lawra-Kloster in Swjatohirsk wurde bombardiert. Ist das nicht paradox?

In Charkiw wurde das Kunstmuseum von einer Rakete getroffen, zum Glück aber nicht schwer beschädigt. Es war schon ironisch, als sein Direktor sagte: „Wir sitzen hier unter russischen Raketen, um die russische Kultur zu bewahren.“ Das Museum sammelt russisch-zaristische Kunst des 19. Jahrhunderts.

Ironie ist wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, mit dieser kulturell zerrissenen Position umzugehen, in die die Ukraine gezwungen wurde?

Zerrissen, ja und nein. Es gibt den Fall des Gregorius-Skoworoda-Museums. Gregorius Skoworoda gehört zum Kanon der ukrainischen und russischen Philosophie, als frühe Figur der Aufklärung. Putin bezog sich auch auf Skoworoda in seinem Text „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“, mit dem er schon im März 2021 die volle Invasion ideologisch ankündigte. Das Museum in der Region Charkiw wurde im Mai von russischen Streitkräften zerstört, nicht aber die Statue von Skoworoda. Fotos von ihrer Evakuierung verbreiteten sich rasch, sie kündeten von der Zerstörung, aber auch der Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Kultur, davon, wie bestimmte Objekte überleben können. Das schafft starke Bindungen.

Wie kann man nun gesellschaftlich mit Orten umgehen, die mit einer russischen Vergangenheit verwoben sind, wie Odessa, das von Katharina der Großen gegründet wurde?

Oder die Stadt Poltawa, berühmt für die Schlacht bei Poltawa und den bis heute von Russland propagandistisch ausgenutzten Sieg Peters des Großen. Jetzt wird versucht, alles zu dekonstruieren, was kulturell mit Russland in Verbindung steht. Einige denken über die Musealisierung solcher Orte nach. Andere schlagen vor, den öffentlichen Raum umzugestalten, Gedenktafeln auszuwechseln, die Vermittlung zu ändern, um irgendwie die Komplexität der Geschichte anzusprechen. Aber es gibt auch den Vandalismus lokaler Aktivisten. Ich fürchte, je länger dieser Krieg andauert, desto schlichter und monolithischer wird das ukrainische Verständnis von Kultur. Wir werden also auch nationalistischer.

Ist es überhaupt möglich, während dieses Angriffskriegs eine kulturelle Offenheit zu bewahren?

Die Ukraine will Teil der EU werden, und wir versuchen daher, Inklusion und Vielfalt als wichtigste Werte zu sehen. Aber das ist sehr schwierig im Krieg! Wir sollten auch unsere eigene Beteiligung am Aufbau des russischen Imperiums anerkennen. Ukrainer machten im 18. und 19. Jahrhundert gute Karrieren im Zarenreich, sie gehörten in einigen historischen Momenten nicht zu den diskriminierten Völkern. Ich hoffe, dieser Krieg wird nicht dazu führen, dass alles Russische verdammt wird. Wir müssen klar unterscheiden zwischen der Vergangenheit, in der eine imperiale Ideologie üblich war, und der genozidalen Ideologie des russischen Staats heute, die archaisch ist und keinen Platz haben darf!

Man denkt jetzt an den Wiederaufbau, von Städten wie Charkiw etwa. Der dortige Kulturpalast der Eisenbahnarbeiter vom russischen Architekten Aleksandr Dmitriev wurde bombardiert. Kann dieses Gebäude, das historisch mit dem sowjetischen Moskau in Verbindung steht, erhalten bleiben? Oder wird über einen Abriss nachgedacht?

Für Charkiw hat man bereits vor dem 24. Februar 2022 mehrere Strategien entwickelt, mit der Architekturgeschichte umzugehen. Einige wichtige Bauten, vor allem jene aus dem 19. Jahrhundert, werden jetzt als Denkmäler einer lokalen Kultur anerkannt. Und die modernistische Architektur, zu der auch der Kulturpalast aus den 1930er Jahren gehört, wird vielmehr als international, als Teil der Bauhaus-Bewegung, nicht mehr als sowjetisch betrachtet. Es gibt keine Abrissgedanken.

Stattdessen muss also die Architekturgeschichte neu gedeutet werden. Wie könnte man nun architektonisch mit dem gegenwärtigen Krieg umgehen?

In Charkiw wird über das Gebäude der Regionalverwaltung kontrovers diskutiert. Im März ist es völlig ausgebrannt. Einige schlagen nun einen ganz neuen Bau vor. Das ursprünglich konstruktivistische Gebäude wurde von der Kommunistischen Partei in den 1920er Jahren errichtet und nach dem Zweiten Weltkrieg im stalinistischen Zuckerbäckerstil wiederaufgebaut, es trägt viele historische Schichten. Nun wird auch überlegt, die Version aus Stalins Zeiten zu rekonstruieren, aber die Spuren der Raketeneinschläge sichtbar zu lassen. Der britische Architekt Norman Foster, den Charkiws Bürgermeister Igor Terechow übrigens sehr verehrt, macht jetzt den Vorschlag, wie beim Berliner Reichstag die historische Fassade zu erhalten und das Innere ganz neu zu bauen.

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