piwik no script img

Nach Angriff auf IsraelRaketen auf Aschkelon

Die Hamas feuert Raketen auf Israel ab. Dessen Armee setzt den Beschuss von Gaza fort. Für Freitag rufen die Islamisten zu gewaltsamem Widerstand auf.

Der Beschuss geht weiter: Soldaten der israelischen Armee an der Grenze zum Gazastreifen Foto: Oren Ziv/ap

Berlin taz | Während Israel nach dem überraschenden Hamas-Angriff vom Wochenende den Gazastreifen von Wasser-, Strom- und Lebensmittellieferungen abgeschnitten hat und auch Ägypten seinen einzigen Grenzübergang geschlossen hat, haben die UN am Dienstag vor einer Totalblockade des Küstengebiets gewarnt. „Die Belagerung, die das Leben der Zivilbevölkerung gefährdet, indem sie ihr überlebenswichtige Güter vorenthält, ist nach dem humanitären Völkerrecht verboten“, teilte Volker Türk, der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, mit.

Jede Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Menschen und Gütern müsse durch militärische Notwendigkeit gerechtfertigt sein. Ansonsten kämen die Maßnahmen einer Kollektivbestrafung gleich. Türk warnte, dass vor allem medizinische Einrichtungen nicht angesichts einer steigenden Zahl an Verwundeten nicht mehr funktionsfähig seinen. Nach Angaben der radikalislamischen Hamas wurden bislang rund 830 Palästinenser getötet 4.250 Menschen durch israelische Angriffe verletzt.

Israel wies die Äußerungen zurück: „Mehr als 900 unschuldige Israelis sind tot. Tausende sind verwundet. Und trotzdem kann der Hochkommissar sich nicht durchringen, diese barbarischen Taten als Terrrorismus zu bezeichnen“, teilte die Vertretung Israels in Genf mit. Allein in der Ortschaft Beeri, in der rund 1.000 Menschen lebten, hatte der Rettungsdienst mehr als 100 Leichen geborgen. Israels Vertretung verwies auf das Recht des Landes, sich zur Wehr zu setzen, und betonte, dass nur terroristische Ziele ins Visier genommen würden.

Keine Aufforderung zum Gehen

Als Reaktion auf die Massaker von Hamas-Kämpfern in Israel bombardiert die israelische Armee seit Tagen das Gebiet. Auch am Dienstag ging der Beschuss weiter, während die Hamas ihrerseits nicht davon abließ, Raketen auf Israel abzufeuern. Unter anderem zielte die Terrorgruppe am Dienstag auf Tel Aviv und Zentralisrael. Am Nachmittag feuerte sie etliche Raketen auf die Küstenstadt Aschkelon, die nur wenige Kilometer nördlich des Gazastreifens liegt. Das Ausmaß des Angriffs war zu Redaktionsschluss noch unklar. Bereits vor dem Angriff auf Aschkelon waren nach israelischen Medienberichten weitere zwei Personen nahe der Grenze zwischen Gaza und Israel getötet worden.

Von vorherigen Aufforderungen an die Bevölkerung des Gazastreifens, das Gebiet zu verlassen, nahm die israelische Armee am Dienstag Abstand: „Wir betonen, dass es keine offizielle Aufforderung Israels an die Bewohner des Gazastreifens gibt, sich nach Ägypten zu begeben“, hieß es in einer Erklärung. Zuvor hatte ein Armeesprecher sich gegenteilig geäußert.

Auch Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte die Bevölkerung aufgefordert, das Gebiet zu verlassen, ohne jedoch ein Ziel zu nennen. Spätestens seit auch Ägypten seinen Grenzübergang geschlossen hat, ist es für die rund zwei Millionen Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in Gaza kaum mehr möglich, das Gebiet zu verlassen.

Die Hamas verschärfte unterdessen ihre Drohgebärden. Sie kündigte an, für jeden israelischen Luftangriff auf Ziele im Gazastreifen eine Geisel hinzurichten. Die Terrorgruppe hat deutlich mehr als 100 Personen, die meisten davon Israelis, in ihre Gewalt gebracht. Über einen Austausch von Gefangenen zu verhandeln, solange die Kampfhandlungen andauerten, schloss Ismail Hanije, einer der Führer der Hamas, am Dienstag aus.

Die nach Hamas-Angaben 830 Toten auf palästinensischer Seite scheinen sich nur auf Tote durch israelische Artillerie- und Luftangriffe zu beziehen. Dies legt eine Mitteilung der israelischen Armee nahe, in der es hieß, man habe in Israel und rund um den Gazastreifen „etwa 1.500 Leichen von Hamas-Kämpfern“ gezählt.

Bundesanwaltschaft ermittelt gegen die Hamas

Für Freitag hat die Hamas zu Protesten und Gewalt zur Unterstützung der Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen aufgerufen. Trotz der gezielten Massentötung von Zi­vi­lis­t*in­nen und der vielen Toten in den eigenen Reihen scheint es ihr aktuell zu gelingen, sich in Teilen der islamisch geprägten Länder als legitime Widerstandskraft gegen Israel darzustellen. Offenbar im Versuch, weitere Fronten zu eröffnen, rief sie am Dienstag auch Palästinenser im von Israel besetzten Westjordanland auf, die Konfrontation mit Soldaten zu suchen. In dem Gebiet ist die Lage ohnehin seit Monaten so angespannt wie seit langem nicht mehr.

Unterdessen hat Irans Staatsoberhaupt Ali Chamenei am Dienstag zurückgewiesen, mit dem Großangriff der Hamas etwas zu tun zu haben. Die Washington Post dagegen berichtete unter Berufung auf die Einschätzung verschiedener Expert*innen, dass der Angriff seit mindestens einem Jahr und mit Unterstützung des Irans vorbereitet gewesen sein musste.

In Deutschland hat die Bundesanwaltschaft wegen des Terrors Ermittlungen gegen die Hamas eingeleitet. Hintergrund sind die Tötungen und Entführungen auch von deutschen Staats­bür­ge­r*in­nen in Israel in den vergangenen Tagen. Ermittelt werde wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristische Vereinigung und weiterer Delikte. Kanzler Scholz erklärte, Deutschland werde „so viel wie möglich tun“, damit entführte Deutsche wieder in Freiheit kämen. Nach taz-Informationen ist den Behörden bisher eine mittlere einstellige Zahl von deutschen Entführten bekannt.

Mitarbeit: Konrad Litschko

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Wie nicht nur ich allein die Entwicklung aktuell einschätze, hat sich die Hamas für ihre erklärten Gegner komplett um Kopf und Kragen gebombt. Jetzt wird sie mit den Maßstäben des IS annonciert und attackiert werden und die endgültige Elimination als militante gewaltbereite Organisation wird das Ziel sein. Der 'Krieg der Bilder' in sozialen Medien birgt die Gefahr, dass er als Prophezeiung der Auftakt zur "Chronik eines angekündigten Todes" mit vielen zivilen Opfern werden wird. Die sich daraus ergebenden Fragen werden auch Verstöße gegen Menschenrechte und horrible humanitäre Verwerfungen betreffen; vorher ist absehbar, was am Ende einer Apokalypse bilanziert werden wird.



    Eine "Self Fulfilling Prophecy". Die martialischsten Bilder gibt es ja längst aus Middle East. Sie werden geboostet und aktualisiert 'amplifiziert', alles an Grausamkeiten war immer im Instrumentenkasten bewaffneter Auseinandersetzungen. Wenn die Organisationen wie UNO, WHO und UNICEF u.v.m. sowie die professionellen BeobachterInnen von Rechts wegen (u.a. BA in KA) jetzt ihre Warnungen aussprechen, sollten wir als Zivilbevölkerung genau zuhören. Schließlich haben uns deutsche Politiker*innen via TV schon vor unerträglichen Bildern gewarnt, mit dem Appell, dann standhaft zu bleiben. Was steht zu befürchten, was wir nicht schon kennen? Denn es gibt nicht ein einziges Jahr globalen Friedens, aber sehr viele Beispiele barbarischer Entmenschlichung in allen Archiven, zunehmend bebildert und gefilmt, digitalisiert und weltweit publiziert.



    Kommentartitel Andreas Zumach 2009 in der taz



    Kommentar Krieg in Nahost:



    Die Welt blickt gelähmt nach Gaza

    Im taz-Archiv (!)2014 zu einem "Frieden"



    "Jedoch will dieses Wort im nahöstlichen Kontext kaum noch über die Lippen. Im Fall Gaza machen beide Seiten – sowohl die Hamas wie die Regierung Netanjahu – kein Hehl daraus, dass sie an einem wie auch immer gearteten Frieden gar nicht interessiert sind."



    taz.de/Kommentar-K...nd-Hamas/!5036566/