Wenn der Sommer endet: Lob des Septembers
Im neunten Monat des Jahres fügt sich klimatisch alles perfekt ineinander – so kannten wir es jedenfalls bislang. Politisch sieht es düsterer aus.
D ie Welt ist ja in ihrem tiefsten Inneren noch begrüßenswert konservativ. So ist es beispielsweise seit jeher am 23. September überall auf diesem Planeten genauso lang hell wie dunkel. Äquinoktium sagt der Wissenschaftler dazu und meint damit frei übersetzt: Dieser Tag ist von den 365 Exemplaren seiner Art derjenige mit der perfekten Work-Life-Balance.
Es ist jetzt also offiziell astronomisch Herbstanfang. Mit dem Herbst verhält es sich – zumindest in Europa – wie mit den Weihnachtsartikeln im Supermarkt: So regelmäßig, wie vereinzelte Schoko-Nikoläuse schon Mitte August in den Discountern auftauchen, so lässt sich die Uhr danach stellen, dass spätestens Ende Juli die ersten Menschen das nahende Ende des Sommers bejammern. Als hätten sie selbst höchstpersönlich neueste meteorologische Daten ausgewertet, rufen sie klagend wie sonst nur der Prophet Jeremija: „Der Herbst steht vor der Tür“. Diesen Menschen entgeht der größte Genuss des Sommers: der September.
Try to remember the kind of September When life was slow and also mellow Try to remember when life was so tender That no one wept except the willow Try to remember when life was so tender That dreams were kept beside your pillow
Abseits des Mainstreams
Gesungen vom großen Harry Belafonte, gehören diese Zeilen aus dem Song „September“ sicher zu den schönsten, die der September je geschenkt bekam. Vielleicht hätte der im April verstorbene Künstler und Bürgerrechtsaktivist mit der gleichen Zärtlichkeit und Sehnsucht vom Oktober singen können. Ich glaube aber eher nicht. Denn Harry Belafonte war erstens Linker. Und als solcher weiß man, dass man abseits des Mainstream nicht im Juli oder August Sommerurlaub macht, sondern im September. Und zweitens war er einer mit einem feinen Gespür für die kleinen Unterschiede, die Riesiges bedeuten.
So riecht der August vulgär, nach schmelzendem Teer, Urin und Harz. Der September hingegen wie frische Wäsche, aber so, als wäre der Schmutz aus ihr noch per Hand mit dem Bleuel am Fluss herausgeschlagen worden. Auch das größte Volksfest der Welt findet natürlich im September statt. Auch wenn die Bayern das verheimlichen und es als „Oktoberfest“ vermarkten.
Politisch gesehen kann man den September allerdings in die Tonne treten: Schwarzer September (München 1972), 11. September (Chile 1973 und New York 2001), 1. September (Polen 1939), …
Aber auch der September ist nicht mehr das, was er mal war. Zum einen unterliegt er wie alle und alles dem Klimawandel und so ähnelte der Großteil des September 2023 dem Oktober 2017, also den schweißtreibend aggressiven Augusten 2016, 2020, 2022, 2023 – mit wenig slow und mellow, mit wenig tender und September.
Verharmlosende Attribute
Analog zum neuen Glauben an Sprachmagie („Klimakatastrophe“ sagen und nicht „Klimawandel“, „Klima(politik)protestler“ sagen und nicht „Klimakleber“) könnten Klimaaktivisten ja nun auf die Idee kommen, Lieder wie das von Belafonte umschreiben zu lassen. Weil, klar, man kann durchaus finden, dass „zärtlich“ und „weich“ verharmlosende Attribute für die brutale Hitze und das Unwettertreiben im September sind.
Doch die wenigsten Aktivisten dürften die sanfte Melancholie von Belafontes „September“ je gehört haben, und außerdem kommt der September ihnen nun entgegen. In der Rubrik „Historische Daten“ hat der zärtlichste unter den Monaten einen neuen Eintrag erhalten: am 15. September 2023 reichte der US-Bundesstaat Kalifornien Klage gegen die größten Ölkonzerne (darunter Exxon Mobil, Shell, BP) ein. Vorwurf: die Öffentlichkeit über die katastrophalen Folgen fossiler Energiegewinnung getäuscht zu haben.
Klar hätte das früher passieren müssen. Dennoch: Wow! Wenigstens in politischer Hinsicht scheint der September seine konservative Haltung aufzugeben und progressiv gestimmt zu sein. Oder wie der Wissenschaftler sagen könnte: Der September stellt beim Klima seine Äquinoktium-Fähigkeiten unter Beweis.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Nach Ausschluss von der ILGA World
Ein sicherer Raum weniger
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben