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Langzeitfolgen der PandemieWie viel Long Covid kostet

Wis­sen­schaft­le­r:in­nen versuchen zu berechnen, wie teuer die langfristigen Pandemiefolgen werden. Ihre Ergebnisse sind aber noch ziemlich ungenau.

Der Verursacher von Long Covid: Kolorierte Elektronenmikroskopaufnahme des Coronavirus Foto: niaid-rml via ap

Berlin taz | Neben den gesundheitlichen rücken zunehmend auch die volkswirtschaftlichen Folgen von Long Covid ins Blickfeld der Öffentlichkeit. In einer am Dienstag veröffentlichten Studie versuchte das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen (RWI), den Spätfolgen der Pandemie ein Preisschild zu verpassen: Auf durchschnittlich 22.200 Euro beziffern sich demnach die „indirekten Kosten“ der chronischen Erkrankung. „Long Covid könnte zu hohen Kosten durch Arbeitsausfälle führen“, bilanzierte das Institut.

Die per Konjunktiv zum Ausdruck gebrachte Vorsicht erscheint geboten: Die Berechnung ist bestenfalls eine grobe Annäherung. Sie geht zurück auf eine Online-Befragung, die das RWI mit dem Selbsthilfeverband Long Covid Deutschland durchgeführt hat. 1.021 Betroffene machten darin Angaben zu Symptomatik, Erfahrungen im Gesundheitssystem und zur Dauer ihrer Krankschreibung.

Bei den Befragten betrug die durchschnittliche Krankschreibungsdauer 237 Tage, dies multiplizierte das RWI mit dem durchschnittlichen Bruttoverdienst und errechnete so die gut 22.000 Euro als Indikator für den Produktionsausfall.

Es ist eine Annäherung mit Grenzen: Einerseits kann die Stichprobe nicht repräsentativ sein – diejenigen, die nach kurzer Zeit wieder weitgehend genesen sind, dürften seltener an der von einer Selbsthilfegruppe organisierten Befragung teilgenommen haben. Andererseits lässt sie offen, ob Personen aus der Umfrage nach der Befragung noch länger als angegeben krankgeschrieben blieben. Beim RWI spricht man daher von einer „Momentaufnahme“.

Viele Fragen ohne Antworten

Vergleichsweise hoch ist der so errechnete Wert jedoch zweifellos. Zum Vergleich: Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) schätzt jedes Jahr die volkswirtschaftlichen Produktionsausfälle durch Arbeitsunfähigkeit insgesamt, also unabhängig von bestimmten Erkrankungen. Zuletzt kam sie für das Jahr 2021 auf einen Wert von 2.174 Euro pro Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin, bei durchschnittlich 17 Krankheitstagen.

Das ganze Ausmaß der gesellschaftlichen Folgen von Long Covid können derartige Berechnungen mithilfe der Arbeitsausfälle freilich nicht sichtbar machen. Den Versuch, möglichst alle Kosten zu fassen, unternahm im Juni der Gesundheitsökonom Afschin Gandjour – Professor an der Frankfurt School of Finance & Management und ein früherer Mitarbeiter des heutigen Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD), als dieser noch als Wissenschaftler tätig war.

Für seine Studie schätzte Gandjour den long-covid-bedingten Produktionsverlust in Deutschland für das Jahr 2021 auf insgesamt 3,4 Milliarden Euro. Hinzu kamen in seiner Projektion ein Verlust an Bruttowertschöpfung von 5,7 Milliarden Euro sowie Gesundheitsausgaben, näherungsweise auf Basis von Reha-Kosten dargestellt, sowie Rentenzahlungen von zusammen genommen 1,7 Milliarden Euro.

Langzeitfolgen den Pandemie können teuer werden

Der Ökonom ging davon aus, dass mittelfristig 0,4 Prozent der Beschäftigten wegen Long Covid ganz oder teilweise aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Dies ist zugleich die wackeligste aller Größen bei den volkswirtschaftlichen Gesamtbetrachtungen: Wie viele Menschen überhaupt an Long Covid erkranken, wie viele von ihnen wie lange ausfallen und welche Therapiekosten möglicherweise über Jahre hinweg für sie entstehen – für all diese Fragen gibt es bislang keine aussagekräftigen Daten.

Die Krankheitstage jedenfalls können kein realistisches Bild der Betroffenheit zeichnen. Manch moderat Betroffener schleppt sich im Beruf noch irgendwie durch oder wechselt auf eine Teilzeitstelle – taucht damit aber in keiner Statistik auf. Therapiekosten „verursachen“ diese Menschen dennoch.

Wie groß der gesellschaftliche Schaden von Long Covid ist, lässt sich also noch lange nicht zuverlässig beziffern. Sicher ist nur: Die chronifizierten Spätfolgen der Pandemie kommen die Gesellschaft teuer zu stehen.

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4 Kommentare

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  • Was mich wundert: es müsste doch ohne Weiteres festzustellen sein, ob es seit der Durchseuchung einen absoluten Anstieg der Krankheitstage gegeben hat.



    Da sind dann zwar (auch) viele Störfaktoren drin, aber am Ende ist doch die Gesamtzahl an Krankheitstagen (erstmal unabhängig von der Diagnose) das, was volkswirtschaftlich relevant ist.

    Wenn dieser Anstieg vorliegt, ist die richtige Frage, worin er begründet ist, und dann kommt auch Post-Covid ins Spiel.

    Die Anzahl an Arbeitsausfalltagen durch Long-Covid absolut zu schätzen OHNE die Gesamtzahl anzuschauen halte ich eher für relativ nutzlos.

    Es ist natürlich im Sinne der Betroffenen, dass hier Studien erstellt werden. Aber ohne vernünftige Datengrundlage ist alles Wischiwaschi...

    Was ist mit den großen Langzeitstudien, die seit einiger Zeit laufen? (NAKO) Müssten dort nicht genug Daten liegen, um endlich mal valide Zahlen zu liefern?

    • @Ringsle:

      Berechtigter Einwand, aber das epidemiologische Monitoring ist durch die Kassen und Bundesinstitute sowie Landesgesundheitsämter aktuell und valide im Vergleich zu vielen anderen Themen des Sektors Gesundheit sozusagen "auf dem Schirm".



      //



      "Menschen, die nur leichte Long-Covid-Symptome haben, fehlten im Schnitt 90 Tage wegen ihrer Krankheit. Dagegen waren diejenigen, die mehr als 7 Tage im Krankenhaus wegen Covid behandelt wurden und anschließend Long-Covid entwickelten, im Jahr 2021 im Schnitt 168 Tage lang krankgeschrieben. Und Menschen, die wegen Corona auf der Intensivstation beatmet werden mussten und anschließend unter Long-Covid litten, waren deswegen im nächsten Jahr sogar durchschnittlich 190 Tage arbeitsunfähig. Über alle Krankheitsstufen hinweg betrug die durchschnittliche AU-Zeit 105 Tage."



      www.pkv-institut.d...age-bei-long-covid



      //



      www.br.de/nachrich...000-faelle,TWyYZ7W



      //



      "In Bayern wurden in den ersten neun Monaten des Jahres 2022 insgesamt 350.000 Fälle von Long Covid oder Post Covid gezählt. Das hat Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) unter Berufung auf Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung erklärt. Im gesamten Jahr 2021 seien nur 150.000 Fälle bekanntgeworden, betonte der Minister mit Blick auf ein Netzwerktreffen zur Versorgungsforschung für die Langzeiterkrankung am 1. März."



      FORTSETZUNG FOLGT GARANTIERT

  • Buntes Bukett an Symptomen, diffuses Wissen und Halbwissen, fast wie die Büchse der Pandora für die wissenschaftliche Medizin, die Epidemie und ihre Folgen.



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    Frau Dr. Jördis Frommhold steht für: "Genesen heißt noch lange nicht gesund."



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    www.swr.de/swr1/rp...frommhold-100.html



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    "Jördis Frommhold: Leider ist es so, dass die Akzeptanz für dieses Krankheitsbild zwar steigt, ich aber immer noch Patientinnen und Patienten sehe, die mit Kopfschütteln und Schulterzucken begegnet werden. Dementsprechend ist es so, dass wir diese Patienten aus ganz Deutschland bei uns im Institut sehen. Via Telemedizin und Videosprechstunde, aber auch vor Ort. Auch wenn es besser wird: der Bedarf und die Luft nach oben ist auf jeden Fall da.



    SWR1: Liegt das daran, dass Ärztinnen und Ärzte die Diagnose nicht stellen können?

    Frommhold: Die Diagnose Long Covid ist eine Ausschlussdiagnostik. Das heißt, dass wir es häufig mit Symptomen zu tun haben, die auf den ersten Blick sehr diffus und unterschiedlich sind. Wir müssen dann erstmal andere Ursachen ausschließen und den zeitlichen Zusammenhang zu einer Covid-19-Infektion herstellen. Je mehr Patienten ich mit diesem Krankheitsbild gesehen habe, desto einfacher fällt mir natürlich auch die Diagnosestellung und die Therapie. Die Behandlung von Covid-Patienten ist im Moment erfahrungsbasiert. Dementsprechend fällt es leichter, je mehr Erfahrung ich mitbringe."



    Da nützt das alte Lehrbuchwissen oft nicht mehr viel, wenn man mit den Symptomen und den Fragen konfrontiert wird, z.B. zu Mastzellen:



    das-immunsystem.de...n-der-immunabwehr/