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Mode-Accessoire ChalkbagWenn das Handy in der Kreide steht

Eigentlich fürs Trockenhalten kletternder Finger gedacht, baumelt der Kreidebeutel jetzt an Großstädterhüften. Muss das sein?

Kletterer mit Kreidebeutel Foto: Massima Pardina/imageBROKEr/imago

Es ist cool, immer ein bisschen Outdoorurlaub am Körper zu tragen. Immer einen Hauch von Berg, von Fels, von Salzwasser zu versprühen. Das war nicht immer so. Jack Wolfskin & Co wurden lange mit peinlichen deutschen Touris assoziiert; solchen, die sich in die gleichen moskitosicheren Hemden und Zip-Hosen wie ihr:e Part­ne­r:in hüllen, um mit dem Wohnmobil an den Gardasee zu fahren. „Funktionsjackenträger“ war eine Beleidigung.

Doch dann kam erst der Aufstieg der Outdoormarke The North Face zum In-Label, und inzwischen ist der Look, der vor ein paar Sommern noch nach Bietigheim-Bissingen aussah, zum Trend geworden. Viele, die in Trekkingschuhen durch Berlin-Neukölln schlendern, sind zwar noch nie auf einen Berg gestiegen, aber in den atmungsaktiven Schuhen mit Profil läuft es sich auch gut zur U-Bahn. Männer in Anglerwesten sah man früher nur in Kombination mit diesen dreibeinigen Klapphockern: an langsam fließenden Gewässern sitzen, Dosenbier in der einen Hand, einen Kescher in der anderen. Jetzt bestellen die Westenträger geeiste Americanos. Und in den Clubs zählt man mehr Fahrradbrillen als auf den Radwegen.

All diese Outdoordinge verbindet ein schlagendes Argument: Sie sind praktisch. In Trekkingschuhen rutscht man kaum aus. In die vielen Taschen einer Weste passt sämtlicher Alltagskram. Schnelle Brillen, sie schirmen das Auge besser vor Fliegen oder Zigarettenqualm ab als unsportliche Sonnenbrillen. Und sie sehen krass aus.

Aber einen Kreidebeutel als Tasche? Jetzt übertreiben es die Möchtegern-Draußis! Zur Erklärung: Beim Freiwandklettern oder Bouldern hängt man sich einen kleinen Beutel an die Hüfte, gefüllt mit Magnesiapulver – das aussieht wie Kreide –, um an der Wand die vor Angst oder Anstrengung nassen Finger in das trockene Puder tunken zu können. So lassen sich die Steine besser greifen.

Ein Hauch von Mittelalterfilm

Im Alltag muss man sich hoffentlich nicht oft wo emporhangeln. Trotzdem wird die Chalkbag – in Kletterhallen fragt niemand, ob er sich deine Kreide leihen kann, nein, im Jargon ist das chalk – nun immer häufiger zur Bauchtasche umfunktioniert, werden Portemonnaie, Handys und Schlüssel darin umhergetragen. Sie lässt sich mit einem Karabiner, dem Outdoor-Accessoire Nummer eins, an die Gürtelschlaufe clippen.

Männer in Anglerwesten bestellen heute geeiste Americanos. Und in den Clubs zählt man mehr Fahrradbrillen als auf Radwegen

Bloß sehen an der Hüfte baumelnde Beutel leider selten lässig aus, sondern erinnern eher an Mittelalterfilme. In denen sind Händ­le­r:in­nen ein bisschen schmuddelig, verkaufen Hühner in Käfigen und tragen ihre Taler in kleinen Ledersäckchen am Gürtel. Der Schnürzug, mit dem der Kreidebeutel zugezogen wird, lässt mich an den Schlafsack denken, der sich nach dem letzten Festival partout nicht zurück in die Hülle stopfen lassen wollte. Ungefähr so praktisch ist eine Chalkbag auch: Anders als die Bauchtasche (noch so ein Ding, in dem früher nur Tou­ris­t:in­nen ihren Reisepass möglichst dicht am Körper trugen) oder die Anglerweste, hat sie nicht mehrere Fächer, stattdessen fliegt alles unkontrolliert darin herum.

Wofür ist sie im Alltag also gut? Für Hundeleckerli vielleicht. Dann bräuchten Hun­de­be­sit­ze­r:in­nen keine Leine mehr, der Hund würde immer nah an der Hüfte seiner Be­sit­ze­r:in bleiben, die Schnauze nach oben in die Duftwolke des Leckerlisäckchens haltend.

Insgeheim habe ich wohl auch ein bisschen Sorge, dass bald ständig Menschen mit Kreidebeutel am Hosenbund zu mir rüberkommen und mir erklären wollen, welchen Kaffee ich bestellen muss oder wo ich mein Fahrrad besser nicht anschließen sollte. Wie in der Kletterhalle, wo mir genauso ungefragt gezeigt wird, wie ich diese oder jene Route am besten klettere, obwohl ich doch eigentlich nur ein bisschen alleine scheitern möchte.

The North Face verkauft jetzt eine Chalkbag bei Zalando, dem größten Online-Modehändler Europas. Für 29,95 Euro bekommt man ein kleines Säckchen aus Polyester mit einem langen, buntgemusterten Tragegurt, mit dem man sich an der Wand im schlimmsten Fall strangulieren könnte. „Walls are meant for climbing“, Wände sind zum Klettern da, steht auf einem kleinen, an den Beutel angenähten Schild. Dieser Kreidebeutel wird wohl höchsten den Berliner Mauerstreifen überwinden.

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16 Kommentare

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  • So viele Trends

    1. Klassische Herrentaschenverwender

    a) Herrentasche von max. halber Schuhkartongröße, getragen am Riemen über der Schulter

    b) oder an der Schlaufe in der Hand

    c) oder seitl. an der Hüfte

    1.1. Die Bauchbeutler.

    Tragen Hüftherrentaschen von dem Bauch. Gilt bei uns in der Szene als wenig geschmackvoll, unästhetisch.

    2. Die Hüft- oder Gürtelbeutler.

    Sie gelten eigentlich als ausgestorben, was Tabaks- und Geldbeutel (Vorsicht! Beutelschneider) angeht. Deshalb eine echte Sensation:

    2.1. Der Kreidebeutler oder Chalkbagger, wie beschrieben. Kommt die Beutel-Renaissance?







    2.1.1. Der Pulverhornträger?

    Es sollen Einzelexemplare in den Metropolen gesichtet worden sein, was sich aber nicht verifizieren lässt. Wahrscheinlich handelt es sich um Mitglieder der Fantasieszene. Behauptet wird in diesem Zusammenhang aber, die Hörner enthielten einen Tagesbedarf an Cannabis, Doppelherz oder Kamillentee.







    3. Der Lässige Leatherman

    Kann systematisch eigentlich nicht zu den Herrentaschenverwendern gezählt werden, da das betont diskrete Tragen eines Multitools/Leatherman am Gürtel per Halfter erfolgt, welches nicht als Tasche gelten kann, da es lediglich der Aufbewahrung eines einzelnen, speziellen Teils dient. Hingegen können Tabak- u. Geldbeutel auch umgenutzt werden.



    Umstritten sind auch Beobachtungen zur Entwicklung einer Szene der







    3.1. *Urban-Prepper* oder *Metropoler*.

    Diese Multitoolträger demonstrieren weniger ihre Macht gegenüber dem Unbill der Natur, sondern zeigen ihre allzeitige Souveränität gegenüber den alltäglichen Herausforderungen des Großstadtjungels. Ihre Multitools ermöglichen z. B. das Vor- und Zurückdrehen von Parkuhren und das Öffnen von Schlössern und Hydranten in der Gluthitze künftiger Sommer. Da der Urban-Prepper weitere, ständig mit zu führende Ausrüstung braucht, greift er bislang auf die klassische Herrentasche zurück.



    Diese Szene ist ihrer zweifelhaften, rechten politischen Ausrichtung wegen mit Sorge zu beobachten.

  • Der Untergang des Abendlandes scheint unaufhaltsam. Chalkbags wären ja noch irgendwie tolerierbar, aber wie man hört tragen diese Barbaren sogar braune Schuhe! In der Stadt!

  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)

    „Die Herrentasche des Grauens“ – getragen auch von Frauens. (Linke Links nach rechts in den Kommentaren) taz.de/Die-Wahrheit/!5943035/

  • Ich kenne Rhe northface eigentlich nur von Eckernförder steineschmeissern auf der Schanze. Seit 2010.

  • Korrekt! Korrekt -

    “The North Face verkauft jetzt eine Chalkbag bei Zalando, dem größten Online-Modehändler Europas. Für 29,95 Euro bekommt man ein kleines Säckchen aus Polyester mit einem langen, buntgemusterten Tragegurt, mit dem man sich an der Wand im schlimmsten Fall strangulieren könnte. „Walls are meant for climbing“ & Chalkbags meant for dog poop!“ 💩💩 -



    That’s true! Wollnich - 🙀🥳🤣 -

  • Sowas gibts anscheinend nur in der Hauptstadt der Hipster, Berlin. Habe ich zum Glück noch nie gesehen, dass jemand einen Chalkback als "modisches" accesoire trägt

  • Sowas nennt man "perfekten Kapitalismus" - alles, aber wirklich alles muß von irgendwem sofort kapitalisiert werden. Fand ich schon vor 40 Jahren (waren die 80er) absolut widerlich, ist heute zur Perfektion ausgereift. Keiner will mehr den eigenen Kopf benutzen - wehrt euch endlich als Konsumenten!

    • @MahNaMahNa:

      "...alles, aber wirklich alles muß von irgendwem sofort kapitalisiert werden...absolut widerlich,..."



      Geht es nicht noch etwas theatralischer? Niemand zwingt Sie irgendwas irgendwo zu kaufen, schon gar keinen Chalkbag.

      • @Stefan L.:

        Wenn man einem Menschen sagt, dass er nicht zum Kauf gezwungen ist, wird man keinen Boykott herbeirufen. Sondern wird die Verkaufszahlen ankurbeln.

        Leider gibt es viele Menschen, die modische Trends mitmachen. Und es gibt Kapitalistenschweißfüße, die tatsächlich Geld damit verdienen wollen. Also ja, es ist widerlich.

        • @Troll Eulenspiegel:

          Wenn Sie finden, man sollte ein bestimmtes Produkt boykottieren, dann starten Sie ein Petition, eine Demo, einen Podcast oder stellen sich mit einem Schild vor den Laden. Nur sinnvoll begründen sollten Sie Ihre Protest schon.



          Und ja, viele Menschen mögen Trends und kaufen sich entsprechende Produkte. Und? Das betrifft Ferraris wie Birkenstock-Sandalen gleichermassen. Wenn Sie Trends verhindern wollen, müssen Sie die Bevölkerung zwangsuniformieren und die Planwirtschaft einführen. Viel Spaß bei der Mehrheitsbeschaffung.

  • Na lieber Kreidebeutel als Bauchtaschen, die mitsamt tiefhängender Hose die tatsächliche Größe des meist männlichen Geschlecht verschleiern.

  • Interessant wird es, wenn jemand einen Trend beschreibt, den man selber bis dato noch gar nicht wahr genommen hat. In welcher Stadt ( und in welchem Jahrhundert) wurde dies denn beobachtet? Ich frage für nen Freund.

  • Moin



    Das passt ganz gut zu unserer Konsum Gesellschaft.

    Smartphone mit einer sehr hohen Rechenleistung, genutzt um ein paar Filter Fotos auf Netzwerke zu laden oder spiele wie Snake zu spielen.

    SUV‘s die überwiegend nur auf Asphalt im Stau rollen.

    Downhill bikes um ganz sicher die Bordsteinkante zu überwinden.

    PEFAS, seltene und kritische Rohstoffe, Chemikalien, sklavenartige Arbeitsbedingungen in den Produktionen Ländern?



    Ist doch geschenkt;)

    Ich bin doch ein Ego-Sapiens, ich weiß ganz genau was das Richtige für mich ist.

    Gruß Roberto