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Illustratorin über Argentinien„Wie man mit Farbe erzählt“

Sole Otero zeichnet Graphic Novels über ihr Herkunftsland. Ein Gespräch über Häuser italienischer Einwanderer und eine neue Generation von Illustratorinnen.

Wie es wohl weitergeht? Ich weiß nur, dass dieses Viertel immer mehr ­verkommt. Seite aus „Naphtalin“ Foto: Abb.: Reprodukt
Eva-Christina Meier
Interview von Eva-Christina Meier

wochentaz: Ein Autorenfoto auf Ihrer Website zeigt Sie beim Zeichnen in einem Café in Buenos Aires. Sind diese tradi­tionsreichen Orte Ihrer Heimatstadt Ihr Arbeitsplatz?

Sole Otero: Seit drei oder vier ­Jahren lebe ich schon nicht mehr in ­Buenos Aires, aber davor gehörte es zu ­meiner täglichen Routine, und ich ging ­immer in dasselbe Café, um zu zeichnen. ­Eigentlich waren es zwei oder drei ­Cafés, die ich bevorzugte, aber es gab ein bestimmtes, wo ich zusammen mit meinen Freunden zeichnete. ­Meistens trafen wir uns dort zufällig. Meine Freunde gehen­ immer noch dorthin.

privat
Im Interview: Sole Otero

geboren 1985 in Buenos Aires, studierte Textildesign an der Universidad de Buenos Aires, arbeitet als Illustratorin und veröffentlicht seit 2015 Graphic Novels. Sie war Mitglied des internationalen Comickollektivs „Chicks on Comics“. Für ihr Graphic-Novel-Projekt „Naphthalin“ erhielt sie 2019 den französischen FNAC-­Salamandra-Preis. www.soleotero.com

In welchem Stadtteil liegt dieses Café?

In Palermo. Es ist eines der wenigen nicht modernisierten Lokale in diesem Viertel, das inzwischen ein bisschen hip geworden ist.

Naphthalin“, Ihre jüngste Graphic Novel. spielt außerhalb des Zentrums, in San Martín, einem Vorort von ­Buenos Aires. In dem Buch erzählen Sie aus der Perspektive der jungen Rocío deren Familiengeschichte, die mit der Auswanderung der italienischen Urgroßmutter nach Argentinien beginnt. Wie ist das Projekt entstanden?

Die Idee zu dieser Geschichte entstand, als meine Großmutter starb. Damals konnte ich mich nicht mehr von ihr verabschieden. Ich habe sie vor ihrem Tod nicht mehr gesehen. Sie ist 2007 gestorben, und ich beschloss, eine kleine Comicseite über sie zu machen. Danach blieb die irgendwie in meinem Kopf hängen, und mit der Zeit, viel später, entstand daraus das Projekt einer Graphic Novel.

Also ist „Naphthalin“ eine autobiografische Erzählung?

Es ist ein autofiktionales Buch. Es basiert vor allem auf dem realen Leben meiner Großmutter, doch es gibt viele Dinge, die darin anders als in der Wirklichkeit zusammengesetzt sind. Und die Figur Rocío hat etwas von mir aus verschiedenen Momenten meines Lebens, aber sie entspricht nicht meiner Persönlichkeit. Ganz und gar nicht.

Farbe spielt in dem Buch eine wichtige Rolle.

Schon seit Langem interessiere ich mich für chromatische Erzählungen, seit „Poncho fue“, meiner ersten Graphic Novel 2016. Es ist auch eine Art Studie darüber, wie man eine Geschichte mit Farbe erzählt. Von da an habe ich damit weitergemacht.

In „Naphthalin“ verbinden Sie durch Rückblenden Rocíos Gegenwart mit der Vergangenheit ihrer Großmutter Vilma. Deren Haus spielt dabei eine zentrale Rolle. Wie kam es zu dieser Dramaturgie?

Das Haus ist nicht wirklich das meiner Großmutter väterlicherseits, sondern das meiner Großmutter mütterlicherseits, in dem ich viel mehr Zeit verbracht habe. Mich interessierte, wie sich dieses Haus während der ganzen Zeit, in der die Familie dort lebte, so stark verändert hat.

Abb.: Reprodukt

Das Haus erzählt vom Ankommen in Argentinien?

Es hat mich fasziniert, wie all diese Menschen, die aus Italien kamen, die aus Großfamilien stammten, ohne viel Geld, ohne irgendetwas, es schafften, einen Platz zum Leben zu finden und zu bauen, zu zerstören und zu bauen, während sie versuchten, ihre Familie weiterzubringen. Diese Häuser, die ein bisschen improvisiert und umgebaut sind, haben viel mit dieser Art, zu leben, zu tun.

Eine Freundin begleitet Rocío beim Einzug in das ehemalige Haus der Großmutter. Ihnen fällt auf, wie anders als in Buenos Aires es in San Martín ist. Inwiefern?

Ich habe einige Jahre in Buenos Aires gelebt, aber ich bin in der Peripherie auf­gewachsen. Ins Stadtzentrum bin ich damals nicht gegangen. Ich kannte es nicht. Außerhalb aufzuwachsen hat ein ganz anderes Gefühl, vor allem, weil es sich viel mehr nach Unterschicht anfühlt. Manchmal ist es auch gefährlicher. Vor allem in der Zeit der Krise wurde das Leben dort ganz anders.

Rocíos Großmutter ist eine komplizierte Person. Doch rückblickend erkennt die Enkelin in deren Biografie auch Gründe für die Bitterkeit. Die Familie flieht 1923 Jahre vor Mussolini aus Italien, und Vilma wächst in der Ära ­Präsident Peróns in Argentinien auf. Was hat Sie bewogen, die historischen Ereignisse nur dezent im Hintergrund anzudeuten?

Ich glaube, mein Interesse an dieser Darstellung hat mit der Sichtweise meiner Großmutter zu tun. Für sie, wie für viele Frauen oder allgemein andere Menschen, war Politik eine Art Feind, ein Eindringling in das Leben der Familie, etwas, das man vermeiden wollte und das schließlich auch zu einer politischen Haltung wurde. Und diese Figur setzt sich mit der Welt draußen nur auseinander, wenn es unbedingt notwendig ist. Das zeigt das Buch. So wird auch die Diktatur fast nicht erwähnt. Es gibt da etwas Subtiles, das von der Diktatur spricht.

Doch offensichtlich haben die äußeren Umstände Auswirkungen auf das Leben der Menschen in Ihrer Erzählung.

Sicher, aber die Geschichte wird so erzählt, als ob jemand sie nicht zu sehr sehen will. Das ist beabsichtigt, bis zum Schluss. Deshalb wollte ich Rocíos Geschichte in der Krise 2001 ansiedeln. Am Ende kommt das politische Leben ins Haus, denn 2001 war ein solcher wirtschaftlicher Schock, dass Rocío zwangsläufig versteht, dass sie sich engagieren muss.

Das Buch

Sole Otero: „Naphthalin“. Aus dem Spanischen von Lea Hübner. Verlag Reprodukt, Berlin 2023, 336 Seiten, 29 Euro

Nach massiven Protesten gegen den Corralito, eine Maßnahme gegen die Kapitalflucht, tritt der Finanzminister Cavallo zurück. Eine Zeitung mit der Schlagzeile liegt nun auf Rocíos Küchentisch. War das Jahr 2001 auch für Sie ein einschneidender Moment?

2001 war ich jünger als Rocío in „Naphthalin“. Es hat mich also nicht so betroffen wie andere Leute, weil ich noch nicht gearbeitet habe. Ich sah es als etwas Seltsames, das um mich herum geschah, mit meiner Familie, mit den Eltern meiner Freunde, mit der Situation im Allgemeinen und den Protesten, aber aus der Sicht einer Zuschauerin und ohne wirklich zu verstehen. Aber ja, am Ende hatte es einen großen Einfluss darauf, wie sich das Land in den folgenden Jahren entwickelte, die Jahre der Zahlungsunfähigkeit, der vielen Präsidentenwechsel. Und ich denke, es hatte einen großen Einfluss auf den Geist der folgenden Jahre. Argentinien ist ein Land, das sich ständig in der Krise befindet.

Manchmal werden Sie mit der argentinisch-deutschen Graphic-Novel-Autorin Nacha Vollenweider verglichen. Gibt es so etwas wie eine neue Generation von Comiczeichnerinnen in Argentinien?

Ja, ich glaube, schon. Nacha ist eigentlich eine sehr gute Freundin von mir. Mit ihr zusammen bilden wir auch ein kleines Kollektiv, das sich „Línea Peluda“ nennt, ein Kollektiv von jungen Frauen, die Comics machen. Sie und ich zeichnen schon seit vielen Jahren Comics und wir haben uns zusammengetan. Dann kamen andere Leute in unserem Alter dazu, die später anfingen, Comics zu zeichnen. Außer uns gibt es noch andere Gruppen von Mädchen, die jünger oder gleichaltrig sind, aber andere Interessen an Comics haben. Und am Ende tauchten Mädchen auf, die schon immer gezeichnet haben, aber nicht so sichtbar waren, und deshalb gibt es jetzt Comicfestivals wie „Vamos las Pibas“, die nur für Mädchen sind. Ich denke, dass Comics von Frauen und dissidenten Identitäten in Argentinien jetzt sehr viel Gewicht haben.

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