Jahrestag des Völkermords von Srebrenica: Schöne Worte reichen nicht
28 Jahre nach dem Genozid in Srebrenica schüren serbische Nationalisten alte Konflikte. Der Westen muss aufhören, die Brandstifter zu hofieren.
A m 11. Juli jährt sich der Genozid an 8.372 Bosniaken in Srebrenica zum 28. Mal. Obwohl es dank des ehemaligen Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina, Valentin Inzko, ein Gesetz gibt, das die Leugnung des Völkermords unter Strafe stellt, wird dieser vom bosnischen Serbenführer Milorad Dodik gebetsmühlenartig bestritten. Die fehlende Durchsetzung der Strafvorschriften des bosnischen Strafgesetzbuchs gegenüber denjenigen, die laut und deshalb auch vorsätzlich diese Vorschriften verletzen, legt deutlich die Defizite des Rechtsstaats offen.
Srebrenica steht exemplarisch für die von Serben begangenen Kriegsverbrechen. Warum verbeißt sich Dodik seit Jahren in Srebrenica und leugnet diesen ersten Völkermord in Europa nach 1945? Eben weil der Genozid ein Menschheitsverbrechen ist. Hätte es Srebrenica nicht gegeben, wären die weiteren serbischen Gräueltaten wohl vergessen.
leitete von 2000 bis 2004 die Antikorruptions-Abteilung im Büro des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina. Am Staatsgerichtshof für Bosnien und Herzegowina war er von 2005 bis 2008 als internationaler Richter in der Revisionsinstanz unter anderem für Kriegsverbrechen tätig.
Wer erinnert an die Belagerung Sarajevos – die längste Belagerung einer Hauptstadt in der Geschichte, bei der über 11.000 Bosniaken, Serben, Kroaten, Roma, Juden und Angehörige anderer Gruppen durch serbisches Artillerie- und Scharfschützenfeuer starben? Wer erinnert an die Zehntausenden zumeist bosniakischen Mädchen und Frauen, die in serbischen Vergewaltigungslagern in Foča, Višegrad und anderswo monatelang gefoltert wurden? Wer erinnert an die ausgemergelten Insassen der serbischen Konzentrationslager Trnopolje, Keraterm und Omarska, in denen Tausende Bosniaken und Kroaten ermordet wurden?
Was Dodik, aber auch den heutigen serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić bewegt, den Genozid immer wieder kleinzureden, ist die Tatsache, dass der Name Srebrenica für alle Zeiten mit der serbischen Geschichte verbunden sein wird – genau wie Auschwitz mit der deutschen Geschichte. Die Anerkennung dieser monströsen Verbrechen und der Schuld ist die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben. Aber daran ist der serbischen Führung nicht gelegen. Grund hierfür sind Pläne von Kumpanen des ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević, dessen großserbisches Projekt zu verwirklichen.
Vučić wiegelte 1995 gegen Bosniaken auf
ist Politikwissenschaftler und Autor. Er war von 1997 bis 2016 unter anderem für die OSZE im ehemaligen Jugoslawien eingesetzt und als Kabinettschef und Sonderberater im Stab des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina an der Umsetzung des Dayton-Friedensabkommens beteiligt.
Vučić und sein Außenminister Ivica Dačić waren während der von Milošević angezettelten Kriege dessen Propagandisten. Vučić erklärte in einer Rede vor dem Parlament am 20. Juli 1995, dass man für jeden getöteten Serben 100 Bosniaken umbringen werde. Gleichzeitig war der Genozid von Srebrenica in vollem Gange, unter Beteiligung von Spezialeinheiten des Belgrader Innenministeriums, die gefesselte Jugendliche mit Schüssen in den Rücken ermordeten.
Trotz Vučićs und Dačićs Vergangenheit als Schergen Milošević’ unterstützen die USA und weitere westliche Mächte die aktuelle serbische Regierung und betrachten sie Stabilitätsfaktor in der Region. Dabei hat erst Ende Mai das UN-Tribunal in Den Haag zwei Mitstreiter von Milošević, die ehemaligen Chefs des staatlichen serbischen Sicherheitsdienstes Jovica Stanišić und Franko Simatović, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Das Urteil ist ein Meilenstein der internationalen Strafjustiz und für Bosnien von großer Bedeutung, denn die beiden wurden wegen ihrer Rolle während des Angriffskriegs Serbiens gegen Bosnien für schuldig befunden.
Im Umgang mit Srebrenica ist mehr Sensibilität geboten
In Deutschland wird das kaum wahrgenommen. Erst vor Kurzem stellte ein Journalist einer deutschen Tageszeitung in Frage, ob Srebrenica tatsächlich das größte Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg gewesen sei. Immerhin seien in Bleiburg im Mai 1945 mehrere Zehntausend Anhänger des faschistischen kroatischen Ustaša-Regimes von den kommunistischen Partisanen Josip Broz Titos umgebracht worden.
Doch ein von der internationalen Strafjustiz anerkannter Völkermord wie der in Srebrenica ist nicht einfach mit anderen Kriegsverbrechen vergleichbar. Was der unwissenschaftliche und ahistorische Vergleich aber trotzdem bewirken kann, ist eine Retraumatisierung der Überlebenden des Genozids. Alle, die sich mit dem Thema Srebrenica beschäftigen, sollten sich mehr Zurückhaltung auferlegen und sensibler damit umgehen.
Vor einem Jahr, am 11. Juli 2022, hielt der Hohe Repräsentant Christian Schmidt eine „Nie wieder“-Rede in Srebrenica. Gleichzeitig beseitigten Serben im nur 15 Kilometer entfernten Kravica Spuren in einer Lagerhalle, in der serbische Soldaten im Juli 1995 über 1.300 Menschen ermordet hatten. Das UN-Tribunal hatte die Lagerhalle als Tatort deklariert. Diese Stätte des Grauens hätte Schmidt mit einer Unterschrift erhalten können.
Frieden lässt sich nicht einfach herbeireden
Durch Desinteresse des Westens ist auf dem Westbalkan eine brisante Gemengelage entstanden. Von Belgrad initiierte Angriffe, wie die auf die Nato-Schutztruppe KFOR in Kosovo Ende Mai, könnten Bosnien über Nacht in Flammen setzen. Es reicht nicht, einmal im Jahr in Srebrenica eine Rede zu halten, und zugleich dabei zuzusehen, wie Milorad Dodik paramilitärische Einheiten aufstellt. Deren Größe übersteigt bereits die der multiethnischen bosnischen Streitkräfte. Diese Einheiten sind eine verfassungswidrige Provokation, die Schmidt und mit ihm der Westen mit einem hilflosen Schulterzucken quittieren.
Unterdessen arbeiten die Nachfolger Miloševićs an der Vollendung des großserbischen Traums. Ein Großteil der identifizierten mutmaßlichen Kriegsverbrecher von damals ist nicht einmal vor Gericht gelandet. Dabei wäre eine Bestrafung wichtig, um das Fundament für ein Zusammenleben zu errichten. Mindestens ebenso wichtig wäre es für den Westen einzusehen, dass man nachhaltigen Frieden nicht durch schöne Worte herbeireden kann. Potenzielle Aggressoren darf man nicht als Stabilitätsgaranten hofieren. Sie nehmen das als Appeasement wahr – und das ist immer gefährlich. Brandstifter sollten als solche benannt werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
AfD-Verbotsantrag im Bundestag
Wahlkampfgeschenk für die AfD