Paramilitärische Organisation in Estland: Jung, patriotisch und gegen Putin
In Estland werden immer mehr Jugendliche militärisch ausgebildet, um im Ernstfall ihr Land verteidigen zu können. Wie problematisch ist das?
E in Wald in Läänemaa, 90 Kilometer westlich von Tallinn. Die Frühlingssonne scheint, die Vögel feiern Hochzeit. Und dann, irgendwo aus dem Gestrüpp, kommt Geschrei. Vier Teenager rennen los, ihre Ausrüstung schlenkert dabei durch die Luft. Da, hinter einem Busch liegt ein Soldat, dem eine Mine das rechte Bein abgerissen hat. Erfreulicherweise hört sein Geschrei sofort auf, als sie ihn erreichen. Er stützt sich auf seine linke Hand, drückt mit der rechten rhythmisch eine kleine Pumpe, sodass munter Blut aus dem Beinstumpf spritzt, und schaut beinahe etwas gelangweilt zu, wie die vier hektisch beraten, was zu tun ist. In holprigen Stimmbruch-Stimmen reden sie durcheinander, die Zeit läuft. Dann scheinen sie sich nach und nach zu erinnern: Den Verletzten ansprechen, Blutung stoppen, mit dem Walkie-Talkie Sanitäter rufen und … war da noch was?
Gut für alle Beteiligten, dass das hier eine Übung ist, eine Mischung aus Manöver und Wettbewerb, organisiert vom Kaitseliit, dem Freiwilligenverband der estnischen Streitkräfte. Die Organisation ist ein hervorragendes Untersuchungsobjekt, wenn man etwas über das Selbstverständnis der Est:innen erfahren will, über ihre Geschichte und ihre Zukunftsängste. Und über das komplizierte Zusammenleben von ethnischen Est:innen und der russischstämmigen Minderheit.
Der große Mann, der mit Offiziersmütze auf dem Kopf neben der Minenopfer-Szene steht und sich alles genau angeschaut hat, ruft, dass die Zeit um ist. Gut hätten sie das gemacht. Wenn sie nicht alle schon zehn Meter weiter vorne von einer anderen Mine erwischt worden wären. „Schärft es euch ein: Immer! Zuerst! Die Umgebung sichern!“ Josua, 16, der Anführer der Einheit, ärgert sich: „Wir wollen hier gut abschneiden, damit wir zum nationalen Wettbewerb können und …“ Einer seiner Teammitglieder ruft ihm etwas zu und er schaut sich nervös um: „Er hat irgendwas gehört … könnte der Feind sein.“ Sie schauen kurz nach, es war nicht der Feind. Und schon verschwinden sie wieder im endlosen Birken- und Sumpfgelände West-Estlands.
108 Menschen in Tarnanzügen rennen hier 36 Stunden lang, teilweise ohne Schlaf, in Vierereinheiten durch die Wildnis. Die Erwachsenen mit echten Waffen, die Minderjährigen mit Attrappen, die unter 16-Jährigen ohne. Ungefähr die Hälfte der Teilnehmer sind Jugendliche. Sie navigieren von Checkpoint zu Checkpoint, an denen sie verschiedene Aufgaben bestehen müssen: Sie quälen sich durch Parcours, paddeln durch Sümpfe, spähen feindlichen Stellungen aus, machen Feuer, lösen unter simuliertem Gefechtslärm Navigations-Rätsel oder wehren mit Schlagstöcken Angreifer ab. Dabei müssen sie immer wieder feindlichen Patrouillen ausweichen.
Junge Adler und Heimat-Töchter
Normalerweise gebe es auch immer noch Schießübungen, sagen alle, die man nach den Gewehren fragt. Einmal noch mit der Ergänzung: „Vielleicht wurde das gestrichen, weil dieses Mal ein Journalist dabei ist.“ Man hätte nämlich schon einmal schlechte Erfahrungen mit einem anderen Journalisten gemacht. 2017 gab es großen Unmut in Estland und Litauen, als ein italienischer Reporter gezielt jugendliche Mitglieder der jeweiligen Freiwilligenverbände mit Waffen in den Händen fotografierte. Man verdächtigte ihn damals, Finanzierung aus Russland für anti-baltische Propaganda erhalten zu haben, die die Länder als nationalistisch und kriegstreiberisch darstellen sollte.
Seit aber aller Welt klar ist, dass diese Attribute auf Russland selbst zutreffen, scheint man deutlich weniger Hemmungen zu haben, vor dem Ausland zu seinen Waffen tragenden Bürger:innen zu stehen. Der Kaitseliit sind Est:innen, die sich militärisch ausbilden lassen, um die reguläre Armee im Ernstfall zu unterstützen. Im Wortlaut heißt es aus der Pressestelle, die Aufgaben seien „militärische Verteidigung und Widerstand, Schutz der Bevölkerung, innerer Sicherheit und gewaltloser Widerstand“. Der Verband untersteht ganz regulär dem Verteidigungsministerium und wird von diesem finanziert. 28.000 Mitglieder zählt er zurzeit insgesamt, schon mit sieben Jahren kann man einer der Jugendorganisationen beitreten.
Die Jungen heißen Noored Kotkad – Junge Adler – und die Mädchen Kodutütred – Heimat-Töchter. Sie lernen nicht nur militärische Grundlagen, sondern auch estnische Geschichte. Und „was es bedeutet, Este zu sein“, sagt Helmuth Martin Reisner, der vor der Fahrt in die Wildnis nach einem aufwändigen Sicherheitscheck im Verteidigungsministerium in Tallinn den Freiwilligenverband ganz offiziell erklären soll: „Der Kaitseliit ist ein lebenswichtiger Teil unserer Verteidigungspolitik und wird von der gesamten Bevölkerung befürwortet.“ Das einzige Problem sei, dass die Nachfrage so groß sei, vor allem seit dem russischen Angriff auf die Ukraine. Man arbeite daran, mehr Ortsgruppen zu gründen und mehr Ausbildungspersonal stellen zu können.
Eine paramilitärische Organisation also, in der engagierte Bürger:innen einen gewissen Patriotismus pflegen können und sich fit halten für den Fall, dass ihr Land und dessen demokratische Werte gegen Aggressoren verteidigt werden muss. Und tatsächlich findet in Estland daran kaum jemand etwas bedenklich. Wenn man sich umhört, dann werden die Kaitseliit-Mitglieder hier und da als Pfadfinder:innen mit Waffen-Fimmel auch mal etwas belächelt, aber tendenziell ist man dankbar, fast jede:r hat Verwandte oder Bekannte, die mitmachen. Und: Kaum jemand versteht die Irritation des Deutschen bei Namen wie Heimat-Töchter und Junge Adler und der Vorstellung, dass da schon Kinder und Jugendliche spielerisch ans Militär herangeführt werden.
„Da ganz links ist ein T-14!“, ruft Marili, 16, ohne ihren Feldstecher von den Augen zu nehmen. Sie liegt an einem anderen Checkpoint neben ihren drei Kamerad:innen auf dem Waldboden, unter einer Tarnplane und starrt weiter ins Dickicht, wo die Prüfer Miniatur-Panzer, Miniatur-Lastfahrzeuge und Miniatur-Kampfhubschrauber versteckt haben, die die Gruppe identifizieren soll. Als Letzte von den vier ist sie eben am Checkpoint angekommen, die rot gefärbten Haarsträhnchen verschwitzt. Ihre Maschinengewehr-Attrappe ist so schwer wie eine echte und sie schleift es beinahe hinter sich her, unter den „Auf! Auf!“-Rufen der Prüfer. Als das Panzer-Erspähen dann vorbei ist, legen sich die Jugendlichen für ein paar Minuten ins Gras, trinken aus Feldflaschen, kauen Nussriegel.
Für sie und ihre Freunde ist der Kaitseliit in erster Linie ein Zeitvertreib. Man erlebt und lernt was, lernt neue Freunde kennen. Aber ja, natürlich gehe es auch darum, ihr Land zu verteidigen. „Aber das mit den Waffen ist ehrlich gesagt nicht so mein Ding“, ergänzt sie. Auf die Info, dass laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov nur elf Prozent der Deutschen ihr Land im Ernstfall mit der Waffe verteidigen würden, während es in Estland laut einer Umfrage des estnischen Verteidigungsministeriums 66 Prozent sind, lächelt das Team nur verwirrt: „Warum das denn …?“
Die Antwort dürfte in den unterschiedlichen Historien der beiden Länder liegen. Während Dingen wie Patriotismus, nationaler Identität und Militär in Deutschland aus naheliegenden geschichtlichen Gründen eher misstraut wird, werden sie in Estland als lebensnotwendig wahrgenommen. Das kleine Land war den allergrößten Teil seiner Geschichte über von fremden Mächten besetzt. Besonders prägend und im Gedächtnis vieler Est:innen noch relativ frisch ist die Sowjet-Besatzung. Viele ethnische Est:innen können von Eltern oder Großeltern erzählen, die während der ersten Besatzung 1940 verhaftet, umgebracht oder nach dem Krieg nach Sibirien deportiert wurden, gut 20.000 insgesamt, vor allem Frauen und Kinder.
Gleichzeitig haben auch nicht wenige Esten im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Deutschen gekämpft. Für Alfons Rebane zum Beispiel, Offizier der Waffen-SS, existiert sogar eine Gedenktafel, vor der regelmäßig frische Blumen niedergelegt werden. Auch er war als junger Mann im Kaitseliit, der seinen Ursprung im estnischen Unabhängigkeitskrieg (1918–1920) hat – und hier ist man als Deutscher dann doch wieder irritiert. Allerdings gelten Figuren wie Rebane in Estland nicht als Nazis, sondern als Freiheitskämpfer. Denn die erste estnische Unabhängigkeit von 1920 bis 1940 wurde von den Sowjets beendet, die gleich nach der Besetzung begannen, Tausende Est:innen zu verhaften und hinzurichten.
Als ein Jahr später die Deutschen die Russen vertrieben, nahm man sie erst als Befreier wahr. Allerdings kämpften auch viele Est:innen auf der Seite der Sowjets. Die estnische Geschichte bestand meistens aus der Wahl zwischen zwei Übeln. Nur waren es zuletzt eben die Russen, die den Est:innen ihren Willen aufzwangen. Und dementsprechend schlecht ist man auf sie zu sprechen.
Die feindlichen Einheiten, die während der Übung die Straßen mit ihren Einsatzfahrzeugen patrouillieren, werden augenzwinkernd die „Zwiebel-Republik“ genannt, ein anderes Wort für Russland. Und auch, wenn in diesem Kontext eindeutig der Staat Russland gemeint ist: Sibul – Zwiebel – ist auch eine abfällige estnische Bezeichnung für diejenigen Est:innen, deren Muttersprache Russisch ist. Manche sagen, wegen der Zwiebeltürme orthodoxer Kirchen, manche, weil Russen früher oft Zwiebeln verkauft hätten. 25 Prozent der Bevölkerung gehören jedenfalls zu dieser in sich wieder relativ heterogenen Gruppe.
Die Familien der meisten wurden während der Sowjet-Besatzung aus verschiedenen Teilen der UdSSR in Estland angesiedelt, die meisten von ihnen sind heute estnische Staatsbürger:innen. Und verschwindend wenige von ihnen sind im Kaitseliit. Obwohl es für estnische Staatsbürger keine Aufnahmebeschränkungen gibt. „Unsere russischen Mitschüler:innen würden hier nie mitmachen“, sagt Marili. Sie habe überhaupt nichts gegen sie, aber sie seien eben anders – undiszipliniert, hibbelig, laut – gängige stereotype Attribute, die jungen Russischsprachigen zugeordnet werden.
Ist das vielleicht der Haken an der ganzen Sache? Sind diese Paramilitärs ein exklusiver Verein, in dem ein ethnisch-estnischer Nationalismus herangezüchtet wird? Erstmal nur so viel: Man sollte Aussagen wie der von Marili nicht gleich Chauvinismus unterstellen. Das Verhältnis von estnischen Esten und russischsprachigen Esten ist nämlich komplex und stark davon abhängig, wen man fragt. Von älteren Est:innen, die teilweise in der Roten Armee gedient haben, kann man wüste Dinge über Russen hören. Vor allem, wie besessen sie von Gewalt seien. Wobei dann nie ganz klar ist, wer gemeint ist – die Russen, die die Ukraine angegriffen haben? Die Sowjets? Die Männer, die früher ihre Kameraden waren und die auch heute noch ihre Nachbarn sind? Oder allgemein von der russischen Kultur geprägte Menschen?
Bei Nachfragen wird dann oft ausgewichen: „Jeder ist Este, der unsere Werte akzeptiert und Estnisch sprechen kann“, sagt ein älterer Ausbilder. Sprache ist ein großes Thema, sie ist zentral für die estnische Identität und ihre Beherrschung Bedingung für die Staatsbürgerschaft. Trotzdem sprechen sie viele, vor allem ältere Russischstämmige, vor allem im Osten des Landes, nicht. Sie stehen dann auch schnell unter dem Verdacht, weiterhin ausschließlich russisches Fernsehen zu konsumieren, das seit dem Angriff auf die Ukraine in Estland eigentlich verboten ist, und in der Gedankenwelt von Putins Russland zu leben.
Spricht man mit jungen Est:innen, egal ob aus russisch- oder estnischsprachigen Familien, dann scheint das Verhältnis zwischen den Gruppen in der Regel deutlich entspannter zu sein. Man bestreitet gewisse Unterschiede zwar nicht, sieht aber in der Regel keinen Grund, einander zu misstrauen. Estnischsprachige sagen, anders als ihre Eltern, auch eher „russischsprachige Esten“ als einfach „Russen“, wenn diese Spezifizierung überhaupt notwendig ist. Viele haben einen estnisch- und einen russischsprachigen Elternteil. Auch Freundeskreise mischen sich immer öfter, auch, weil eben viele junge Russischstämmige fließend Estnisch sprechen. Man geht gemeinsam jede Woche vor der russischen Botschaft in Tallinn gegen den Krieg in der Ukraine demonstrieren – und das schon seit 2014.
Aber auch das ist wieder nur ein Teil der Wahrheit. Man hört oft, dass es einen gewissen Unterschied zwischen den in Tallinn und den im Osten lebenden Russischsprachigen gebe. Erstere seien besser integriert und hätten ein höheres Bildungsniveau. Letztere kämen wenig in Kontakt mit der estnischsprachigen Mehrheit und würden sich weniger mit dem Land identifizieren. Und es mag vielleicht kein ganz verlässlicher Indikator sein – aber wenn der Kaitseliit ein Angebot für alle Est:innen ist, sich für ihr Land zu engagieren, warum tritt dann auch vom russischsprachigen Nachwuchs kaum jemand den Jungen Adlern oder den Heimat-Töchtern bei?
Helmuth Martin Reisner vom Verteidigungsministerium sagt, das liege vor allem daran, dass die meisten Russischsprachigen in urbanen Gegenden leben, wo Outdoor-Aktivitäten, die einen Großteil des Kaitseliit-Programms ausmachen, einfach nicht so beliebt seien. Man sehe aber vor allem die Jugendorganisationen eigentlich als ein gutes Instrument zur Integration und die Statistiken zeigen, dass die wenigen Russischsprachigen, die Mitglieder sind, später einmal ein höheres Einkommen und bessere Aufstiegschancen hätten. Das Durchschnittseinkommen von Russischsprachigen liegt im Baltikum etwa zehn bis zwölf Prozent unter dem der jeweiligen ethnischen Mehrheit.
Es gibt sie aber, diejenigen, die russischer Herkunft sind und Estland im Ernstfall verteidigen wollen. In Narva, besagter Grenzstadt mit 95 Prozent russischsprachigen Einwohnern und 30 Prozent mit russischer Staatsbürgerschaft, hat die einzige russischsprachige Kaitseliit-Gruppe ihren Sitz, mit 120 Mitgliedern. Die drittgrößte estnische Stadt bietet ein anderes Bild als Tallinn: alles ein bisschen heruntergekommener, viele hässliche Mehrfamilienhäuser aus der Sowjetzeit. Direkt am Fluss Narva ragt eine große mittelalterliche Grenzfestung empor, wie auch am gegenüberliegenden russischen Ufer, der Stadt Iwangorod.
Der Kaitseliit hat in Narva sein eigenes Haus und Vladislav Eglet, Chef der Jugendgruppen, bittet in einem Raum Platz zu nehmen, dessen Wände behangen sind mit allen möglichen Wimpeln und Urkunden. Er bleibt lange vor einem eingerahmten Bild stehen, auf dem ein estnisches Gedicht steht, eingerahmt von einer großen Biene und einem Bienenstock, das in den estnischen Farben – Blau, Schwarz, Weiß – angemalt ist. In dem Gedicht gehe es darum, dass alle Est:innen verschiedene Lebenswege einschlagen und dann trotzdem alle in den gemeinsamen Bienenstock heimkehren.
Mit ihm ist eine Teenagerin gekommen, Maria. Auf die Frage, ob es in Narva Leute gibt, die es ihr übelnehmen, dass sie bei den Heimat-Töchtern mitmacht, muss sie lachen. „Ach was. Viel komischer, dass ich als Russischsprachige beim Kaitseliit bin, finden die, dass ich ein Mädchen bin und mich für Militärsachen interessiere“, sagt die 16-Jährige, deren Look – Septum-Piercing, gefärbte Haare, Schlabberpulli – eher an Billie Eilish als an eine Heimat-Tochter denken lässt. Vladislav ergänzt: „Hier in Narva wären wir die Ersten, die von einem russischen Angriff betroffen wären. Und wir wollen um jeden Preis unsere Heimat, Estland, verteidigen.“ Die Einstellung der meisten hier in Narva zum Kaitseliit sei neutral bis positiv. Es gebe in Narva höchstens hundert bis zweihundert unverbesserliche Putin-Fans.
Während er das sagt, haben sich ein paar hundert Meter weiter an der Uferpromenade sicher mehr als tausend Menschen versammelt. Es ist der 9. Mai, Tag des Sieges, und man hat direkt am russischen Ufer eine riesige Bühne und Bildschirme aufgebaut, über den Fluss nach Narva gerichtet. Stundenlang dröhnen Sowjet-Schlager und Sprüche wie „Putin ist mein Präsident“ und „Russland ist das beste Land der Welt“ herüber.. Eine Handvoll mutiger Jugendlicher mit Ukraine-Fahnen werden angeschrien, bedroht. „Diese Leute spielen sich heute groß auf, aber keiner von denen würde in Russland leben wollen“, sagt Vladislav. „Die wissen, wie gut es ihnen hier in Estland geht.“
Maxim, 35, Unternehmer, sieht das anders: „Ich fühle mich hier manchmal wie ein Bürger zweiter Klasse“, erzählt er bei einem Treffen in Tallinn. Seine Muttersprache ist Russisch, aber er hat auch eine estnische Großmutter. Er bezeichnet sich selbst als „Rustonian“. Offene Anfeindungen oder Ähnliches habe er zwar nie erlebt, aber sein Leben lang das Gefühl gehabt, wegen seines Namens und seiner Sprache irgendwie unten gehalten zu werden, ohne dass er genau benennen könne, wie. „Dieses Gefühl hat sich seit dem russischen Angriff auf die Ukraine verstärkt“, sagt er.
Abgesehen von einigen wenigen Berichten von Bekannten, die beschimpft wurden, als sie in der Öffentlichkeit russisch gesprochen haben, sind es vor allem zwei Neuerungen, die innerhalb des letzten Jahres beschlossen wurden und die ihn ärgern: Der Unterricht in öffentlichen Schulen soll nur noch auf Estnisch stattfinden und sämtliche sowjetische Denkmäler im öffentlichen Raum sollen abgerissen werden.
Maxim, der nicht mit seinem echten Namen genannt werden will, habe nichts für das heutige politische Russland übrig, darum ginge es nicht. „Aber der Kommunismus war ein großes – wenn auch schiefgegangenes – Experiment, an dem sowohl Russen als auch Esten beteiligt waren, er ist Teil dieses Landes. Aber heute wird so getan, als ob es eine simple Geschichte von Gut und Böse, von Besatzern und Unterdrückten gewesen sei.“ Und wenn man wolle, dass alle Estnisch lernen, dann müsse man auch Geld dafür ausgeben. Im Moment gebe es bei Weitem nicht genug Lehrangebote, es würde erwartet, dass sich die Schüler und Studenten die Sprache selbst beibringen. „Wenn der estnische Staat Angst hat, dass sich irgendwelche Russischsprachigen im Land radikalisieren, dann sollte er ihnen eher signalisieren: wir vertrauen euch und wir wissen zu schätzen, was ihr kulturell zu diesem Land beitragt.“
Was den Kaitseliit angeht, hat er das Gefühl, man wolle gar nicht wirklich, dass allzu viele „Russen“ beitreten. Andererseits glaubt er auch nicht, dass dort eine ideologische Indoktrination stattfinde. „Zumindest ist das sicher nicht vergleichbar mit der gezielten Gehirnwäsche von jungen Menschen, die seit Jahren in Russland betrieben wird.“
Aber wenn man genau hinschauen will, findet man, wie wohl in den meisten Organisationen mit Militärbezug, auch im estnischen Freiwilligenverband Rechtsextremismus. Tiina, Gründerin eines der vielen IT-Start-ups, auf die Estland so stolz ist, zögert erst, über ihre Erfahrungen mit dem Kaitseliit zu sprechen – ein Zögern, auf das man häufig stößt, wenn man die Themen Verteidigung und Militär in Estland anspricht. Niemand will einer unpatriotischen Haltung verdächtigt werden. Unter der Bedingung, dass auch sie anonym bleibt, erzählt sie dann doch: 2018 wollte sie nach einem Grundtraining einer Anti-Panzer-Spezialeinheit des Kaitseliit beitreten.
In deren Chat-Gruppe sah sie dann im Laufe der Zeit mehrere Nachrichten mit rechtsextremem Inhalt, geschrieben vom Leiter der Einheit. Unter anderem bot er Mitgliedern an, estnische Übersetzungen von „Mein Kampf“ bei ihm zu kaufen. Tiina machte Screenshots und schickte sie einem Journalisten. Eine Woche später wurde sie unter einem Vorwand aus der Einheit ausgeschlossen. Auf Anfrage heißt es vom Pressesprecher des Kaitseliit, dass man zu diesem Fall keine Aussage machen könne, aber dass „Mein Kampf“ in Estland nicht verboten sei.
Verglichen mit den rechtsextremen Netzwerken in der Bundeswehr, die teilweise gewaltsame Umstürze planen, scheint das zwar noch halbwegs harmlos, zeigt aber, wie fließend der Übergang von Patriotismus zu Nationalismus in solchen Organisationen ist. Was Estland angeht, lässt sich aber nicht von der Hand weisen, dass es eine sehr reale Bedrohung durch ein Nachbarland gibt. Den Kaitseliit deshalb als einen Haufen Waffen-Nerds mit rechtsextremen Fantasien abzutun wäre falsch. Viele hier rechnen fest mit einem russischen Angriff auf die baltischen Staaten, vielleicht in einem, vielleicht in zehn Jahren. Und viele glauben, dass es trotz Nato-Verbündeter und Wehrpflicht in Estland wichtig ist, sich zusätzlich als Einzelperson ein Minimum an Wehrhaftigkeit zuzulegen.
Die Reportage wurde unterstützt durch den von Renovabis und Hoffnung für Osteuropa ausgeschriebenen Recherchepreis Osteuropa 2023
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk