Debatte um freigesprochenen Jugendlichen: Ein Rückfall in alte Zeiten

Hamburgs CDU und Presse fordern Härte gegen einen 14-Jährigen, der vom Vorwurf des versuchten Mordes freigesprochen worden ist. Das ist kontraproduktiv.

Eine Hand schließt eine Zellentür auf.

Einsperren war schon: Der Junge, um den es geht, hat schon zehn Monate in U-Haft gesessen Foto: Christian Charisius/dpa

Hamburg taz | Hamburg spricht gerade über ein gefährliches Kind und erlebt damit einen unseligen Rückfall in alte Zeiten der Ära von Ronald Schill. „Gefährlicher 14-Jähriger hält Hamburger Polizei in Atem“, titelte am Wochenende das Hamburger Abendblatt. Es ging dabei um einen Jungen, der wegen des Vorwurfs des versuchten Mordes über zehn Monate seines jungen Lebens in Untersuchungshaft war – und schließlich freigesprochen wurde. Denn der Hauptbelastungszeuge machte auf die Richterin keinen glaubwürdigen Eindruck.

Und was tut die Presse? Statt innezuhalten, ob hier wohl ein Junge über Monate zu Unrecht eingesperrt war, statt zu reflektieren, ob die U-Haft diesem mehr geschadet hat als genützt, statt zu fragen, welche Probleme ein 14-Jähriger hat, der solche Auffälligkeiten zeigt, und statt zu fragen, wie solchen Kindern begegnet werden sollte, sozial, pädagogisch, therapeutisch, – stattdessen stilisiert sie ein neues Monsterkind.

Denn es soll aus der Zeit der U-Haft ein 70-seitiges Dossier über ihn geben, was er dort alles angestellt habe. Sich nackt ausgezogen, um zu provozieren, zum Beispiel. Und er soll eine Gefahr sein, weil er mit der Frage „verstört“ habe, warum man nicht Kinder entführen darf.

Der Junge sei „brandgefährlich“, kolportiert das Blatt, doch in den Behörden wolle niemand zuständig sein. Sodann zitiert die Zeitung – die schon 2001 dem Rechtspopulisten Schill nicht gerade Steine in den Weg legte – einen kaum bekannten Kriminologen aus Lüneburg, wonach in solchen Fällen „keine Schönwetterpädagogik“ gefragt sei. Man müsse im Blick haben, dass Kinder „potentielle Opfer eines psychisch gestörten 14-Jährigen werden könnten“.

Und die Hamburger CDU, die, das war bereits an vorangegangenen Artikeln zu sehen, in der Dramatisierung der Jugendkriminalität ein Wahlkampf­thema sucht, zeigt sich „erschrocken“. Es scheine, dass man hier eine „tickende Zeitbombe“ habe, sagt CDU-Mann Dennis Gladiator und fordert die Prüfung einer geschlossenen Unterbringung – die der Junge ja gerade hinter sich hat.

Hamburg erlebt damit gerade einen unseligen Rückfall in alte Zeiten der Ära Ronald Schill

Alle, die hier nicht durchgriffen, machten sich sonst „mitschuldig, wenn die nächste Straftat passiert“, postuliert Gladiator weiter. Wobei – auch das stand im Hamburger Abendblatt – der Junge selbst „nur vereinzelt wegen Straftaten bekannt“ war. Weshalb es jetzt, so das Blatt weiter, um dessen „potentielle Gefährlichkeit“ gehen solle.

Was CDU und konservative Presse nicht schert: Es ist ethisch fragwürdig, einen Minderjährigen so in die Öffentlichkeit zu zerren, indem man ihn zum Zentrum der Berichterstattung macht. Dabei ist unerheblich, dass die Staatsanwaltschaft inzwischen gegen den Freispruch Revision eingelegt haben soll.

Es zählt nicht zu den Aufgaben von Polizei und Justiz, hier aktiv Pressearbeit dazu zu machen. Denn es ist kontraproduktiv und pädagogisch unverantwortlich. Das ist die Lehre aus den 1990ern, als Medienberichte über die sogenannten Crash-Kids, die Autos klauten und gefährlich damit fuhren, die Probleme nur verschlimmerten und junge Negativ-Helden ihre Zellenwände von innen mit Artikeln über sich selbst bepflasterten.

Der Hamburger Senat tat nun übrigens das einzig Vernünftige und teilte der Öffentlichkeit sachlich mit, dass im Fall dieses Jungen alle beteiligten Akteure von Schule über Polizei bis zur Kinderpsychiatrie unter Federführung der Jugendhilfe vertrauensvoll zusammenarbeiten, um dessen Betreuung lückenlos sicherzustellen und ein gutes Miteinander aller zu gewährleisten, die mit dem Jungen zu tun haben.

Doch etwas zu viel der Ehre für dieses plumpe Remake der Medienkampagne von vor 20 Jahren ist derweil, dass der Familienausschuss der Bürgerschaft prompt am Donnerstag zur Sondersitzung einlädt, um sich über diesen „Einzelfall“ berichten zu lassen. Auch wenn das hinter verschlossenen Türen geschieht, werden die Abgeordneten so Teil der großen Aufregung.

Macht das erst mal Schule, können wir uns in den kommenden rund eineinhalb Jahren bis zur nächsten Wahl noch auf so einige neu produzierte „Monster-Kids“ – die durch die Schlagzeilen gezogen werden – gefasst machen. Denn da die Zahl der Intensivtäter zuletzt zurückging, braucht die CDU Einzelfälle, um bei dem Thema zu punkten.

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Jahrgang 1964, seit 1992 Redakteurin der taz am Standort Hamburg für Bildung und Soziales. Schwerpunkte Schulpolitik, Jugendhilfe, Familienpolitik und Alltagsthemen.

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