Brandbrief des Kindernotdienstes: Katastrophe mit Ansage
Der Jugendstaatssekretär besucht den Berliner Kindernotdienst. Zuvor hatten Mitarbeitende einen Brandbrief wegen schlechten Arbeitsbedingungen geschrieben.
Der Staatssekretär ist vor Ort, weil er mit den Mitarbeiter*innen der Aufnahmestelle über die Situation im Kindernotdienst sprechen möchte. Die hatten sich in der vergangenen Woche mit einem Brandbrief an den Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU) und die Jugendsenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) gewandt, weil sie die Arbeit für sich und die Kinder im Notdienst als „untragbar“ empfinden.
Es ist nicht das erste Mal, dass Mitarbeiter*innen aus dem Kindernotdienst selbst um Hilfe rufen (taz berichtete), aber dieses Mal steht die ganze Einrichtung dahinter.
Eigentlich hilft der Berliner Kindernotdienst (KND) Kindern, die etwa wegen Gewalt von zu Hause wegmüssen. Doch seit Jahren beklagen die Mitarbeiter*innen gegenüber der verantwortlichen Senatsverwaltung für Familie ihre eigene Notlage. „Gegenwärtig kann der Kindernotdienst seine Aufgabe nicht mehr erfüllen“, schreiben die Mitarbeiter*innen in dem Brandbrief.
Mehr als 1.000 Überstunden
Der Kindernotdienst (KND) gehört – neben dem Mädchennotdienst und dem Jugendnotdienst – zu einem Netzwerk von Beratungs- und Unterbringungsangeboten des Berliner Notdienst Kinderschutz (BNKS). Im KND können Kinder von 0 bis 13 Jahren unterkommen, sie sollen dort maximal 3 Tage bleiben. Der BNKS verfügt insgesamt über 39 Betten, 10 davon beim KND. 2022 verzeichnete der KND 392 Inobhutnahmen, die im Durchschnitt 7,5 Tage dauerten.
Die Mitarbeitenden fassen hier die Probleme zusammen, die für sie eine „Katastrophe mit Ansage“ sind. Der Personalmangel führe zu „Krankheit, Rückzug, Selbstschutz und Resignation“. Seit Anfang März seien über 1.000 Überstunden allein im Betreuungsbereich angefallen.
Der Kindernotdienst habe außerdem zunehmend mit Kindern zu tun, die „besondere Hilfebedarfe“ aufweisen. Diese Kinder richten häufig Gewalt gegen sich und andere und müssten psychiatrisch betreut werden. Eine Aufnahme dieser Kinder sei Aufgabe des KND.
„Dies kann aber nicht bedeuten, dass ein Kindernotdienst mit zehn Betten dauerhaft für die Psychiatrie herhalten muss“, heißt es im Brandbrief. Da diese Kinder viel Zuwendung brauchen, können andere Kinder, die etwa Gewalt erlebt haben oder durch „Unfall, Krankheit, Suizid oder Feminizid ihrer Eltern verloren haben“, nicht betreut werden.
Staatssekretär Liecke hatte im RBB eine Woche vor seinem Besuch im KND die Situation anders eingeschätzt. Der Brandbrief sei zum Teil „sachlich falsch“ sagte er dort. Er kritisiert, dass in dem Schreiben ein tödlicher Fall in Freudenberg im März dieses Jahres in Verbindung mit der Situation im Kindernotdienst gebracht wird.
Dort war ein Mädchen mit über 70 Messerstichen getötet worden – die mutmaßlichen Täterinnen sind 12 und 13 Jahre alt. „Dass so etwas im Rahmen des Kindernotdienstes geschieht, ist völlig abstrus“, sagt Liecke in der „Abendschau“. Auch seien insgesamt 45 Personen im Kindernotdienst für maximal 10 Plätze zuständig. Dementsprechend sieht er die Betreuungssituation als gedeckt an.
Gesprächsbereitschaft reicht nicht
Es sei ein gutes Zeichen, dass Liecke sich jetzt gesprächsbereit zeige, ist der Konsens auf der Kundgebung vor dem Kindernotdienst. „Wenn er wirklich verstehen will, wie es uns in der Jugendhilfe geht, soll er mal eine Woche mitarbeiten“, fügt Teilnehmerin der Kundgebung hinzu.
Fabian Schmidt von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sagt: „Wir stolpern von der einen in die nächste Krise“, sagt er. „Und am Ende machen wir Sozialarbeiter*innen das alles noch mit.“
In dem 3,5-stündigen Gespräch sei entschieden worden, dass die Beratungsstelle des Kindernotdienstes vorübergehend mit der Beratungsstelle im Jugendnotdienst zusammengelegt werden soll, sagt die Senatsverwaltung. Außerdem soll eine zweite Aufnahmestelle geschaffen werden.
Offen sei jedoch geblieben, wie diese Maßnahmen überhaupt umgesetzt werden sollen, heißt es aus dem Kindernotdienst. Das Team des Kinder- und Jugendnotdienstes zeigt sich nach dem Gespräch mit Liecke resigniert. „Völlig abstrus“ empfindet ein Mitarbeiter die gefundenen Vereinbarungen.
Da hätten sich auch die Protestierenden vor dem Gebäude der Gitschiner Straße mehr erwartet, die während des Gesprächs mit Ratschen und einem Banner vor dem KND ausharrten.
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