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Migration als Erpressungspotenzial„Team Europe“ nutzt Not Tunesiens

Karim El-Gawhary
Kommentar von Karim El-Gawhary

Was aussieht wie eine Situation, von der beide profitieren, ist de facto eine EU-Politik, die ihre Interessen in der Migrationspolitik durchzusetzt.

„Team Europe“ mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saied und Premierin Najla Bouden Romdhane Foto: Slim Abid/Tunisian Presidential Palace/ap

T unesien braucht dringend eine Finanzspritze. Die EU ist bereit, 900 Millionen Euro zu bezahlen, wenn das nordafrikanische Land dafür sorgt, dass von seiner Küste keine Migrationsboote mehr Richtung Europa ablegen. Das hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrer Reise nach Tunesien am Wochenende in Aussicht gestellt. Außerdem will die EU ein gutes Wort beim Internationalen Währungsfonds (IWF) einlegen, dass dieser einen 1,9-Milliarden-Dollar Kredit für Tunesien freigibt.

„Die Europäer drehen den Tunesiern den Arm auf den Rücken“, beschreibt das Tunesische Forum für Wirtschaftliche und soziale Rechte den in Aussicht gestellten Deal: Tunesien im Bettlergewand und im Griff der EU. Tunesien hat immer wieder betont, dass es nicht die Rolle des EU-Grenzschützers übernehmen will. Doch es droht der wirtschaftliche Kollaps.

Das Land kann im Moment gerade seinen Schuldendienst schultern. Die Schulden machen fast 80 Prozent des Bruttosozialproduktes aus. Jede Finanzspritze von außen sorgt dafür, dass Tunesien sich gerade so über Wasser hält. Viele Tunesier stehen ökonomisch und sozial mit dem Rücken zur Wand. Vier von zehn Jugendlichen sind arbeitslos. Auch ein Grund, warum unter den Migranten, die sich auf den Weg nach Europa machen, so viele Tunesier sind.

„Team Europe“ nannte von der Leyen sich und ihre nach Tunis mitgereisten EU-Politiker, die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, den niederländischen Regierungschef Mark Rutte. Das sollte neuen Schwung symbolisieren. Doch das „Team Europe“ redet bisher meist im Konjunktiv, denn die Inhalte des Deals und die Frage, wie weit die Tunesier mitmachen, sind noch alles andere als klar.

Nicht nur Grenzpolizei spielen

Dennoch sprach die italienische Rechtspolitikerin Meloni von einem „erreichten Meilenstein“. Ihre Vorstellung: Die Tunesier sollen nicht nur Grenzpolizei spielen, sondern auch noch alle Migranten zurücknehmen, die es nach Europa geschafft haben und dort als „illegal“ bewertet wurden – sofern sie auf ihrer Reise von der tunesischen Küste abgelegt haben. Ein alter rechtspopulistischer Traum in Europa: Das Flucht- und Migrationsproblem gegen Cash vollkommen auf Nordafrika abzuwälzen. Nur, dass dort bisher kein Land darauf eingegangen ist.

Wie weit sich Tunesien darauf einlassen wird, hängt nicht nur von seiner ökonomischen Verzweiflung, sondern auch von Präsident Kais Saeid ab. Der hat Ende 2021 das Parlament aufgelöst und regiert das Land inzwischen fast wieder nach dem Handbuch arabischer Autokraten. Zu den Neuwahlen des Parlaments, dessen Rechte er massiv beschnitten hatte, kamen vor ein paar Monaten gerade einmal acht Prozent der Wahlberechtigten zum Urnengang.

Saeid hat ein echtes Legitimationsproblem. Für nächstes Jahr stehen Präsidentenwahlen an; Saied braucht dringend eine Erfolgsgeschichte. Der EU-Deal könnte so eine Geschichte sein.

105 Millionen potenzielle Flüchtlinge

Aber nicht nur die EU verdreht die Arme, auch für Nordafrika steckt hier einiges Erpressungspotenzial. Der ehemalige Militärchef und ägyptische Präsident Abdel Fatah al-Sisi spricht bei Besuchen europäischer Politiker in Kairo immer gerne von angeblich 9 Millionen Migranten und Flüchtlingen in Ägypten und seiner eigenen, 105 Millionen zählenden Bevölkerung, von denen viele aufgrund ihrer ökonomischen Verzweiflung sich ohne Zögern auf den Weg nach Europa machen würden.

Allein diese Andeutungen öffnen den europäischen Geldbeutel. Mit Blick auf den EU-Tunesien-Deal wäre es für Ägypten geradezu ratsam, Migrationsboote in großem Stil von der ägyptischen Küste ablegen zu lassen, um dieses Erpressungspotenzial zu unterstreichen. Das Thema Migration steckt voll politischen Zynismus auf allen Seiten.

Im Fall Tunesiens entbehrt das auch nicht einer gewissen Ironie. Das Land hatte vor zehn Jahren infolge des Arabischen Frühlings als einziges ein demokratisches Experiment gewagt. Damals hätte es dringend eine Art europäischen Marschallplan gebraucht.

Man hätte aus dem Land ein demokratisches Schaufenster mitten in der autokratisch regierten arabischen Welt machen können, ähnlich wie einst Westberlin in Richtung Osten. Es hätte nicht viel gekostet, das kleine Tunesien mit seinen 12 Millionen Einwohnern zu einem demokratischen und wirtschaftlichen Musterland zu machen – zu einem Gegenmodell des vom Militär regierten Ägypten und der zutiefst antidemokratischen Golfmonarchien.

Aber Europa hat Tunesien im Stich gelassen. Außer ein paar Routineentwicklungsprogrammen und ein paar Präferenzen im Handel war da nicht viel. Tunesiens Demokratie ist an der Wirtschaft gescheitert, woraufhin der Möchtegern­auto­krat Saeid an die Macht kam.

Keine Strategie vorhanden

Hätte Europa damals über seinen Tellerrand hinaus gesehen und strategisch gedacht, hätte eine Investition in die tunesische Demokratie das Land stabilisiert und der tunesischen Jugend eine Perspektive gegeben, sich daheim ein Leben aufzubauen. Es hätte vielleicht sogar ein Land geschaffen, in der einige der Flüchtlinge aus anderen Teilen Afrikas ein Auskommen gefunden hätten. Damit wäre natürlich nicht das gesamte Migrationsproblem, aber zumindest ein Teil davon gelöst worden.

Heute kommt jede Hilfe zehn Jahre zu spät. Das ganze kostet die EU wahrscheinlich viel, viel mehr als eine finanzielle Intervention damals gekostet hätte. So wird Tunesien und mit ihm Kais Saeid als Migrationsbremse und Grenzwächter eingekauft. Denkt man das weiter, endet das in Internierungslagern für die vom tunesischen Grenzschutz abgefangenen Migranten. Ein Modell, dessen menschenverachtende Konsequenz wir aus Libyen kennen. Wie viel effektiver und humaner, auch im Namen der so oft zitierten europäischen Werte, wäre es gewesen, der jungen Demokratie auf die Füße zu helfen.

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Karim El-Gawhary
Auslandskorrespondent Ägypten
Karim El-Gawhary arbeitet seit über drei Jahrzehnten als Nahost-Korrespondent der taz mit Sitz in Kairo und bereist von dort regelmäßig die gesamte Arabische Welt. Daneben leitet er seit 2004 das ORF-Fernseh- und Radiostudio in Kairo. 2011 erhielt er den Concordia-Journalistenpreis für seine Berichterstattung über die Revolutionen in Tunesien und Ägypten, 2013 wurde er von den österreichischen Chefredakteuren zum Journalisten des Jahres gewählt. 2018 erhielt er den österreichischen Axel-Corti-Preis für Erwachensenenbildung: Er hat fünf Bücher beim Verlag Kremayr&Scheriau veröffentlicht. Alltag auf Arabisch (Wien 2008) Tagebuch der Arabischen Revolution (Wien 2011) Frauenpower auf Arabisch (Wien 2013) Auf der Flucht (Wien 2015) Repression und Rebellion (Wien 2020)
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1 Kommentar

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  • Dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der EU verbessert werden kann, ist ja klar. Tunesien sollte unbedingt auf Augenhöhe verhandeln und die EU sollte nicht von oben herab neokoloniale Abhängigkeiten schaffen.

    Immerhin spricht selbst die taz mittlerweile von "Migrationsbooten" und nicht von Flüchtlingsbooten. Damit wird die Debatte ein Stück weit ehrlicher. Danke dafür.

    Der Autor macht selbst sehr deutlich, dass der Migrationsdruck vor allem ökonomische und soziale Gründe hat: "Vier von zehn Jugendlichen sind arbeitslos." Das ganze Problem hat also tatsächlich sehr wenig mit "Flucht" oder "Asyl" aus politischen Gründen zu tun, wie empört aufgeregte Stimmen uns immer wieder gerne weismachen wollen.