: Nennen wir sie die „Deutschland-Rede“
In der Frankfurter Paulskirche erhielt Vizekanzler Robert Habeck den Ludwig-Börne-Preis. In seiner Rede erklärte er den heftigen gesellschaftlichen Streit dieser Tage als demokratieerhaltend
Von Peter Unfried
Man kann gar nicht so viel kotzen, wie man müsste, im Angesicht der rechtslinken Reaktionäre, die sich vor der Frankfurter Paulskirche versammelt haben, um den bundesdeutschen Vizekanzler Robert Habeck der Ökodiktatur, des Kriegstreibens, der sozialen Verelendung und was sonst noch alles zu bezichtigen. So scharf könnte Ludwig Börne geurteilt haben, in dessen Namen dem Wirtschafts- und Klimaminister am vergangenen Sonntag drinnen in der Paulskirche ein Preis für herausragendes Sprechen und Schreiben überreicht wurde. Habeck selbst würde so niemals reden, aber darauf kommen wir noch.
Robert Habeck ist die zentrale Projektionsfigur für alle möglichen Strategien und Emotionen geworden, aus dem einfachen Grund, dass er als Wirtschafts- und Klimaminister auf der Grundlage des Koalitionsvertrages und durch die Notwendigkeit der Folgen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine agierte. Zum Zwecke der Herabwürdigung wird der auch gern als „Kinderbuchautor“ und „der Philosoph“ bezeichnet. Ersteres zeugt von einer unverständlichen Respektlosigkeit gegenüber kompetenten und gesellschaftsrelevanten Kinderbuchautoren, Letzteres verkennt – absichtlich oder selbst ahnungslos – die Lage, in der wir, die deutsche und die globale Gesellschaft, sind.
Angesichts der vielen Eskalationsmöglichkeiten braucht es ja gerade Philosophie, es braucht jetzt großes und freies Denken, das die konservativen Normalitätsvorstellungen und auch die sich selbst genügende linksliberale Werte-Rhetorik erschüttert und damit neue diskursive und im Anschluss daran politische Wege öffnet, jenseits der populistischen Sackgasse, auf die wir zusteuern. Einen Punkt haben die Kritiker allerdings, wenn auch in ihrer Verkennung der Entwicklung des gelernten Exekutivpolitikers Habeck, der ja viele Jahre ein Ministerium leitete und in Gummistiefeln mit Bauern und Fischern herumstritt, bevor er nach Berlin ging. Der Punkt ist, dass Politiker keine Philosophen sein dürfen. Sie dürfen eben nicht ganz oben und allein auf weiter Flur sinnieren, sie müssen nicht am Großen herumdenken, sondern am Ganzen.
Das ist seit Langem Robert Habecks Programm, könnte man sagen: Vom Großen auf das Ganze zu kommen. Davon handelt auch die Rede, die er bei der Entgegennahme des Börne-Preises ausgerechnet in der Frankfurter Paulskirche hielt. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie er verschiedene Entwürfe ausprobierte, verwarf und sich schließlich für die Rede entschied, die er dann hielt. Nennen wir sie die „Deutschland-Rede“, weil sie versucht, das Land und seine auseinanderdriftenden Interessengruppen in Staatlichkeit zu fassen und dadurch zusammenzuführen.
Habeck ist der erste Spitzenpolitiker in Verantwortung, der den Preis der Ludwig-Börne-Stiftung bekommt; Joachim Gauck bekam ihn, aber vor seiner Zeit als Bundespräsident. Insofern hat FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube, der als One-Man-Jury den Preisträger auswählte, großes Gespür für das bewiesen, was Joschka Fischer „Zeitenbruch“ nennt. Habecks Leistung, sagte Kaube, bestehe darin, in seinem Schreiben und Sprechen „die veränderte Zeit in die reflektierte Erfahrung des Politikers“ hineinzubekommen.
Habeck selbst hat dann in seiner Rede den Unterschied herausgearbeitet zwischen einem oppositionellen und oft zensierten Publizisten, Kritiker und Großdenker, wie es der (gescheiterte) Frankfurter Revolutionsdemokrat Börne in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war, und einem – im Sinne des Wortes – Staatsmann in der „Verantwortung des Handelns, das sich vor der ganzen Republik zu rechtfertigen hat“. Es seien eben nicht nur Urteile und Debattenbeiträge, die zur Diskussion stünden, sondern „die eigenen Handlungen“.
Habeck sagte das nicht, aber im Zentrum eines langsam abklingenden mediengesellschaftlichen Hurrikans – vordergründig um ein neues Gebäudeenergiegesetz – hat er erfahren, was das bedeuten kann. Habecks nächster Punkt ist aber ein anderer: Sprechen in Verantwortung, Erklären, Offenlegen, wie man zu einer Handlungsentscheidung kommt, sei eine „Pflicht“ – klar, dass man hier an Bundeskanzler Scholz und auch seine Vorgängerin Merkel denken muss, die das offenbar anders sehen. Die Sätze des Handelnden dürfen dabei nicht beißend scharf und irritierend sein wie jene Börnes oder die von tatsächlich relevanten Gegenwartsintellektuellen.
Und sie sollten schon gar nicht unverständlich sein. Sie müssen reparativ sein, also zusammenführen. Habeck nennt es in der Paulskirche „die Mit-Verantwortung für eine geteilte Öffentlichkeit, die für demokratisches Handeln unverzichtbar ist“. Die Philosophie ist eine Grundlage des Sprechens, eine zweite Grundlage ist das Bewusstsein für die ungeteilte Verantwortung für eine heterogene Gesamtgesellschaft. Die Zeit, zitiert er Börnes Erfahrungen aus dessen Umbruchzeiten Anfang des 19. Jahrhunderts, sei „ungekocht“, also roh, was zu Unverträglichkeit führen kann, weil die Veränderungen da sind oder kommen, aber nicht besprochen werden.
Robert Habeck hat schon in seiner Zeit als faktischer Oppositionsführer und Grünen-Vorsitzender zwischen 2018 und 2021 eine andere Sprache und damit ein neue politische Kultur entwickelt; eben keine klassisch-spitze und vereinfachende Oppositionssprache, wie sie jetzt die Union und die rollenverwirrte FDP pflegen. Sondern eine in vielerlei Hinsicht ausgreifende Sprache, die nicht mehr auf exklusive „Haltung“ zielte, wie das Grünen-Tradition war und teilweise noch ist, sondern auf möglichst viele Bündnisse mit anderen Gruppen.
Wenn man sein Sprechen jetzt analysiert, auch was er am vergangenen Freitag beim Gespräch mit dem Großphilosophen Peter Sloterdijk bei der Phil.Cologne ablieferte, dann hat er sich weiter entutopisiert, fast schon entakademisiert, jedenfalls dann, wenn ihn das nicht zum Handeln, zum Machen führt. Schluss mit Visionen, vor allem auch mit Apokalypsen. Während Philosophen geschäftlich in großen Zeitspannen denken wollen, ist dieser Politiker der Aufklärer des Hier und Jetzt. Manchmal ist er dann so detaillistisch, dass erfahrene Spindoktoren aufstöhnen. Noch wird auch in den Salons der Gegenwart gemurrt, wenn er Sätze raushaut wie „der Gedanke ist so radikal, dass er nichts nützt“.
Wenn Habeck an diesem Sonntag in der Paulskirche über Börne spricht, etwa dessen unrealisiertes Zeitschriftenprojekt „Der Vermittler“, dann redet er auch darüber, wie er sich sehen will und worum es ihm gehen soll, nämlich die – hier lässt er Börne sprechen – „widerstrebenden oder wetteifernden Ansprüche und Erwartungen der verschiedenen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft auszugleichen“. Am Ende geht es Habeck – auch das war früher grünenuntypisch – immer um die Freiheit, die sich, wie er sagt, nur als gesellschaftliche Freiheit realisieren kann. Woraus ernsthafte Wirtschafts- und Klimapolitik – sein Ceterum censeo – logisch folgt. Denn je weniger Transformation gelingt, desto weniger Freiheit (Demokratie, Emanzipation, Wohlstand, Individualismus und so weiter) gibt es in einer kriseneskalierenden Welt.
Im Kern von Habecks Denken steht jetzt die Frage unserer Zeit, die sich offenbar aus seinen jüngsten negativen Reaktionen auf sein politische Handeln geformt hat: „Wie verhindert man, dass gerade eine aktive Politik, die versucht, im Angesicht der großen Zukunftsherausforderungen Gräben zu überwinden, diese neu aufreißt?“ Das ist die große Frage. Eines ist jedenfalls klar: „Wenn sich Staatsfeindlichkeit als Mode anbietet“ (Kaube), braucht es keine Hanswurst-Politiker, die diese Staatsfeindlichkeit auch noch bedienen. Oder Medien, die sie schüren.
Jedenfalls kommt am Ende in der Paulskirche dann die ganz große Pointe, vor allem für die, die den Vizekanzler unbedingt als von der Kritik beleidigten Mimimi hinstellen wollen. Habecks Antwort auf die Lage ist: weiterhandeln. Denn, so zitiert er Börnes Biografen Ludwig Marcuse: „Es gibt keinen Realismus außer dem des Handelnden.“ Als Grundlage dafür ist die „Kompromissmaschine soziale Marktwirtschaft“. Und: weiterstreiten. Streit ist für ihn keine Eskalation, sondern die Normalität in einer heterogenen Gesellschaft der Vielfalt. „Wir streiten, solange wir uns noch zuhören können“, sagt er. Kritik dürfe man nicht als Beleidigung begreifen, sondern sei Ausdruck demokratischer Anerkennung und Voraussetzung einer neuen Verständigung. Kein Wort der Klage, keine Erwähnung, kein Wort der Beschwerde über den tatsächlich infamen Teil der Kritiker. Null Komma null. Wo sie sich doch wochenlang so angestrengt haben.
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