Politische Gefangene im Iran: Bitte werdet zu unserer Stimme
Die Gefangene Sepideh Qolian appelliert an Abgeordnete aus Land, Bund und EU. Sie sollen als "kollektive Stimme" für die politischen Gefangenen sprechen.
L iebe politische Pat*innen der politischen Gefangenen im Iran. Ich grüße Sie. Mein Name ist Sepideh Qolian und ich bin eine politische Gefangene.
Nachdem ich mehr als vier Jahre im Gefängnis verbracht hatte, wurde ich im März dieses Jahres freigelassen und am gleichen Tag wieder verhaftet. Ich hatte vor dem Evin-Gefängnis Parolen gegen Khamenei (religiöser Führer der Islamischen Republik Iran) gerufen. Auf dem Weg in meine Heimatstadt nahm man mich deshalb am gleichen Tag erneut fest und ich wurde zu weiteren zwei Jahren Haft verurteilt – für das Rufen einer Parole.
Sepide Qolian, 28, ist eine bekannte iranische politische Aktivistin. Im November 2018 wurde sie verhaftet. Aktuell ist sie im Teheraner Evin-Gefängnis inhaftiert. Adressaten ihres Briefes sind die 400 Menschen in Deutschland, die politische Patenschaften für die politischen Gefangenen im Iran übernommen haben Qolians politischer Pate ist der Grünen-Bundestagsabgeordneter Max Lucks.
Mein Verbrechen besteht darin, dass ich eine „Frau“ bin, die „Freiheit“ und „Leben“ nicht nur für sich selbst, sondern für alle Menschen dieses Landes will. Da ich im Gefängnis Jura studiere und mehr denn je über Gerechtigkeit nachdenke, kann ich mit Sicherheit sagen, dass jede Form von Kompromiss und Toleranz gegenüber der herrschenden Tyrannei und dem eingeschlagenen Weg der Islamischen Republik Iran nicht zu Gerechtigkeit führen wird.
Für viele von uns politischen Gefangenen – und sogar für diejenigen, die nicht eindeutig aus politischen Gründen angeklagt sind, aber aufgrund politischer Umstände und Entscheidungen Inhaftierung, Folter und Hinrichtung ausgesetzt sind, ist es ein wichtiges Zeichen der Solidarität, dass über 400 deutsche Abgeordnete bereit sind, politische Patenschaften für politische Gefangene in Iran zu übernehmen.
Schwieriger Wendepunkt der Revolution
Heute, acht Monate nach dem staatlichen Femizid an Jina Mahsa Amini, einer 22-jährigen Kurdin aus Saquez, stehen wir an einem schwierigen Wendepunkt unserer Revolution. Kurdistan hat sich nach diesem Mord erhoben, Belutschistan hat sich erboten, Iran hat sich erhoben. Die Menschen waren sich einig. Bis das Regime mit massiven Tötungen, Verhaftungen und Todesurteilen dafür sorgte, dass die Straßenproteste zurückzudrängen. Das Regime macht keine Rückzieher, sondern treibt seine Politik des systematischen Mordens voran. Wird die eine Hinrichtung nicht vollstreckt, so ist es am nächsten Tag eine andere.
Vor allem Belutschi*innen, Kurd*innen und Araber*innen sind Opfer dieser Politik. Aber die Islamische Republik konzentriert sich bei ihrer Politik des Mordens nicht nur auf eine Region oder eine Bevölkerungsgruppe. Anfang Mai wurde Habib Chaab, ein schwedisch-iranischer Staatsbürger, den das iranische Regime 2020 während einer Türkeireise entführte, von genau diesem Regime hingerichtet.
Jetzt wurde das Todesurteil gegen Jamshid Sharmahd, einen deutschen Staatsbürger, bestätigt. Auch meine Mitinsassin, die deutsche Staatsbürgerin Nahid Taghavi, ist noch immer eine Geisel der Islamischen Republik. An dieser Stelle ziehe ich meinen Hut vor den Töchtern von Jamshid Sharmahd und Nahid Taghavi, Gazelle Sharmahd und Mariam Claren. Deren Eltern sind deutsche Staatsbürger*innen und werden hier in Iran als Geiseln gehalten, während ihre Töchter unerschrocken gegen das Regime ankämpfen.
Wegen „Kriegsführung gegen Gott“ hingerichtet
In der Nacht auf 19. Mai wurden drei Männer aus Isfahan unter anderem wegen „Kriegsführung gegen Gott“ hingerichtet. Sie sollen angeblich Sicherheitskräfte bei einer Demonstration getötet haben. Majid Kazemi, einer dieser Angeklagten, gab an, dass alle vor Gericht verwendeten Geständnisse unter Folter entstanden seien. Genauso wie wir gefoltert wurden, um Geständnisse abzulegen. Genauso wie Sepideh Rashno gefoltert wurde, um ein Geständnis abzulegen. So wie auch Habib Chaab und Jamshid Sharmahd sowie Tausende von Gefangenen gefoltert wurden, um Geständnisse von ihnen zu erzwingen.
Als eine von vielen politischen Gefangenen bezeuge ich, dass die Formulierung „politischer und nicht politischer Gefangener“ lächerlich ist. Denn wenn es der Islamischen Republik gelingt, Belutsch*innen wegen lächerlicher Drogendelikte zu töten, kann sie den Galgen gleich dauerhaft stehen lassen. Wenn das Regime Jina Mahsa Amini töten kann, kann es auch weiterhin wegen Verstößen gegen die Zwangsverschleierung morden. Wenn sie in der Lage sind, Kinder wie den 9-jährigen Kian Pirfalak zu töten, können sie jeden einzelnen von uns töten. Das ist die Vorstellung der Islamischen Republik Iran von Politik.
Unter der Herrschaft der Islamischen Republik im Iran gibt es keine Politik. Alles, was existiert, ist Gewalt und Mord, um die Menschen daran zu hindern, durch einen revolutionären Prozess wieder zu Menschen zu werden.
Liebe politische Pat*innen, bitte ergreifen Sie die Initiative und entwickeln Sie eine Strategie. Sie können unsere kollektive Stimme sein, abgesehen von der individuellen Stimme eines Gefangenen, dessen politische Patenschaft Sie übernommen haben. Sie können die Ihnen zur Verfügung stehenden demokratischen und parlamentarischen Mittel nutzen und sich gegen die gesamte Tötungsmaschinerie des Regimes im Iran stellen.
Bitte setzen Sie auf echte Iran-Expert*innen und fordern Sie dies auch von Ihren Kolleg*innen. Bitten Sie die Medienhäuser, die Propaganda der Islamischen Republik in Bezug auf Gefangene nicht zu wiederholen – weder mit politischen noch mit unpolitischen Anschuldigungen. Klären Sie die Öffentlichkeit auf. Sie können unsere Stimme sein, indem Sie die Politik Deutschlands als eines der mächtigsten Länder Europas verändern. Wenn das unschuldige Gesicht des ermordeten Jina Mahsa Amini Sie bewegt, dann beenden Sie die Beschwichtigungspolitik gegenüber der Islamischen Republik. Damit werden Sie zur Stimme iranischen Bevölkerung werden, die derzeit keine eigene Stimme hat. Frau. Leben. Freiheit. Jin. Jiyan. Azadi.Sepideh Qolian, 18. Mai 2023, Evin-Gefängnis, Teheran
Aus dem Farsi von Mina Khani
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!