Nach Vorwürfen gegen Till Lindemann: Staatlich verordnete Achtsamkeit

Familien- und Frauenministerin Lisa Paus von den Grünen fordert Awareness-Teams bei Konzerten. Entlässt das die Musikbranche aus der Verantwortung?

3 orangene Warnwesten nebeneinander

Einfach nur mit Warnweste rumlaufen reicht nicht Foto: Nikolai Sorokin/picture alliance

Die drastischen Vorwürfe gegen Rammstein wegen mutmaßlichen Machtmissbrauchs und sexueller Übergriffe, die die Band in einem Statement bestreitet, rufen die Politik auf den Plan. Familien- und Frauenministerin Lisa Paus von den Grünen schlug eine ganze Reihe von Maßnahmen vor.

Die Musikindustrie solle einem Bündnis gegen Sexismus beitreten, die „Nullte Reihe“ bei Rammstein-Konzerten, in die aufgrund von Attraktivitätskriterien ausgesuchte junge Frauen aufgenommen worden seien, solle abgeschafft werden, dafür sollen Schutzräume für Frauen eingerichtet werden. Ein Vorschlag kam überraschend: Paus brachte Awareness-Teams ins Spiel.

Diese sollen Betroffenen bei Konzerten zur Verfügung stehen, wenn es zu sexuellen Übergriffen kommt. Awareness-Teams, die üblicherweise in Zweierteams in hellen Warnwesten durch Partys streifen und oft auch an einem stationären Infotisch ansprechbar sind, sollen die erste Anlaufstelle sein, wenn sich jemand aus welchen Gründen auch immer unwohl fühlt.

Überraschend kommt dieser Vorschlag deshalb, weil das Konzept von Awareness-Teams aus linken Subkulturen stammt. Nun wurde sie aus dunklen, selbstorganisierten Kellern in die grelle Öffentlichkeit der Bundespolitik getragen. Das könnte einem wichtigen und mittlerweile gut erprobten Konzept verdiente Aufmerksamkeit bescheren. Aber: Was meint Lisa Paus genau, wenn sie von Awareness spricht? Kann man so ein Konzept von oben herab verordnen?

Ursprung in linken Subkulturen

Der Ursprung von Awareness-Teams ist ein ganz anderer: Durch jahrelange Erfahrung und Diskussionen über den Umgang mit Sexismus, Diskriminierung, zwischenmenschlich manifestierten Machtgefällen sowie möglichen Problemen durch Alkohol- und Drogenkonsum entstand seit den späten Neunzigern das Konzept Awareness erst in linken Partykreisen, bald auch in queeren Szenen. Awareness bedeutet Achtsamkeit oder Bewusstsein.

Trotz des englischen Namens ist es ein Konzept, das fast nur im deutschsprachigen Raum verbreitet ist, denn es ist auch Ausdruck eines Bewusstseinswerdungsprozesses gewisser Milieus, in denen emotionale, intellektuelle und schlussendlich organisatorische Auseinandersetzungen über den Umgang mit Sexismus und Diskriminierung geführt wurden.

Am Awareness-Konzept ist auch zentral, dass man eine Instanz geschaffen hat, die den offiziellen staatlichen Strukturen vorgelagert ist. Statt sofort die Polizei zu rufen, will man Probleme innerhalb der Szene lösen. Wenn jemand auf Drogen zusammenklappt oder einen schlechten Trip hat, muss man nicht sofort den Krankenwagen rufen und die Person dem Gesundheitswesen übergeben. Geschultes und erfahrenes Personal kann abschätzen, ob die Person einfach Ruhe und Magnesiumwasser braucht um runterzukommen oder tatsächlich ins Krankenhaus muss.

So sollen auch repressive Strukturen aus Partys zurückgedrängt werden (wobei man manchmal nicht umhin kommt, die Secus oder sogar die Polizei dazuzuholen). Awareness-Teams sind weder Erste Hilfe noch Security oder Sozialarbeiter:innen, sondern eine Form der Selbstregulierung und der Self-Care einer Gemeinschaft. Sie rekrutieren sich dabei meist aus der Szene selbst, kennen die Codes, Verhaltensweisen und Traditionen der Gemeinschaft, um die sie sich kümmern. Abgesehen von den Westen sind sie ästhetisch oft kaum von den anderen Be­su­che­r:in­nen zu unterscheiden.

Pinke Warnwesten reichen nicht

Wenn nun eine Bundespolitikerin fordert, solche Teams einzusetzen, verändert sich die Dynamik. Linke Stimmen warnen bereits vor der Professionalisierung von Awareness-Strukturen. Es ist zwar wichtig, dass diese Form von Care-Arbeit auch bezahlt wird. Alle, die schon mal bei einer Party gearbeitet haben, wissen, dass das nicht nur Spaß macht. Allerdings, so die Kritik, entfernt sich das Awareness-Konzept dadurch immer weiter von seinen Ursprüngen und den Szenen, die es getragen haben. Bald schon besteht kaum noch ein Unterschied zwischen klassischer Security und Awareness.

Schon jetzt ist es ein Problem, dass sich Veranstalter eine pinke Warnweste überstreifen und dann so tun, als wäre damit alles in Butter. So kann vorgegaukelt werden, man tue etwas gegen Sexismus und Diskriminierung, ohne jedoch wirklich aktiv zu werden. Wenn nun Veranstalter von riesigen Konzerten, die seit Jahrzehnten bei den in der Musikszene so verbreiteten Übergriffen weggesehen haben, diese Machtstrukturen befördert und finanziell von ihnen profitiert haben, ein paar bezahlte Menschen in Warnwesten durchs Publikum streifen lassen und einen verschämten Infotisch in eine Ecke stellen, um so den Anschein zu erwecken, sie wollten endlich gegen die Missstände ihrer Branche vorgehen, dann versuchen sie sich damit von ihrer wahren Verantwortung reinzuwaschen.

Und sie missbrauchen auch die jahrelange Auseinandersetzung von Menschen in linken und queeren Subkulturen mit den in uns allen vorhandenen Machtstrukturen und der Suche nach Lösungen für einen Umgang damit.

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