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Milo Raus „Antigone“ im TheaterbetriebNicht so romantisch glotzen

Milo Rau soll den Wiener Festwochen künftig wieder mehr Glanz und Geltung verschaffen. Ein Ausblick ist schon jetzt seine „Antigone im Amazonas“.

Szene aus Milo Raus „Antigone Amazonas“ mit Landlosenbewegung MST und NT Gent Foto: David Baltzer

Im Staub der gerodeten Landfläche nahe der Straße, die dem agroindustriellen Raubbau eine Schneise durch die Amazonasregion schlägt, beweint Antigone (Kay Sara) ihren Bruder Polyneikes (Frederico Araujo), benetzt seinen Leichnam aus einer Wasserflasche, bestreut die Gliedmaßen mit Sand, gräbt ihm eilig mit der Spitzhacke das Grab, angesichts der Geier, die sich zuvor schon an einem Kuhkadaver zu schaffen machten.

Die Sprache der indigenen Aktivistin und Schauspielerin wird im Zuschauerraum des NTGent oder des Wiener Burgtheaters wohl kaum verstanden, wo ihre Filmsequenz als Teil von „Antigone im Amazonas“ eingespielt wird. Es ist die jüngste Arbeit von Milo Rau, dem kommenden Intendanten der Wiener Festwochen, in einer Zusammenarbeit mit der brasilianischen Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST).

Der Gestus der Trauer, des Aufbegehrens und der Weigerung, auch um den Preis des eigenen Lebens der Gewalt nicht zu weichen, bleibt indessen universell. Diesen Königskindern geht es um mehr als Palastintrigen. Die Szene ist Teil des Reenactments eines Massakers, das Polizei und Paramilitärs vor einigen Jahren an protestierenden Landlosen verübt haben.

In der Abenddämmerung einer schwindenden Hegemonie europäischer Kultur entdecken landlose Ar­bei­te­r:in­nen im Amazonas darin Instrumente und Modelle, die ihren Kämpfen als Selbstvergewisserung brauchbar scheinen. Das Konzept Einverleibung spielt eine zentrale Rolle im postkolonialen Denken Brasiliens im 20. Jahrhundert. Das Fremde buchstäblich zu „fressen“, es in einem poetischen wie subversiven Akt zu verdauen und dabei seine Blick- und Deutungshierarchien zu entblättern, soll das Sprechen der Subalternen erst möglich machen. Die Antigone-Erzählung scheint eine geeignete Folie zu sein. Erhebt sich darin doch eine Stimme gegen die Macht, die auf der Agora eigentlich nichts zu sagen hat.

Eine Art von Gambit

An europäischen Theatern entsteht ebenfalls Appetit auf Einverleibung. Er wächst aus einer Transformation des Kulturbetriebs, die oberflächlich betrachtet als Krise erscheint. Repräsentative Einrichtungen sind ihrer Geschichte nach herrschaftsförmig, erfahren sich aber alles andere als „systemrelevant“. Herrn Lessings Schaubühne hat sich gewandelt. Thea­ter verteilt nicht mehr Sichtbarkeit, sondern wird zum Sinn suchenden Vakuum, das fortschreitend neue Inhalte in sich aufnimmt, um selbst in der Gesellschaft sichtbar zu bleiben.

Zur Attraktivität von Milo Raus Arbeiten trägt das Versprechen bei, Kunst und politischer Aktivismus könnten sich wechselseitig befeuern. Rau spielt immer auch eine Art von Gambit dabei, opfert ein Stück weit künstlerische Komplexität, um aktuelle Dringlichkeit zu gewinnen. Wo der Zug gelingt, strebt die Dynamik der Inhalte in eine äquivalente Form, wo nicht, bleibt moralisches Einvernehmen zurück, hinter dem die Negativität der Kunst, ihr irritierendes Potenzial für Wahrnehmungen und Weltdeutungen verblasst.

Milo Rau übernimmt die Wiener Festwochen im kommenden Jahr nach einem Jahrzehnt des programmatischen Mäanderns, des gesunkenen Publikumszuspruchs und der schwindenden Alleinstellungsmerkmale. Das Festival zeigte in der Stadt immer die andere Seite eines Betriebs, der durchweg deutschsprachig und stationär agierte. In der Festwochensaison vermittelten Hel­d:in­nen und Gurus der Moderne Innovation oder zumindest Weltgeltung.

Die starke öffentliche Wahrnehmung engagierter Kunst in ihrem Programm oder auch dem des Burgtheaters seit Claus Peymann gipfelte in den 2000er Jahren bisweilen in der kühnen Idee einer kulturellen Hegemonie von links. Die wurde im anhaltenden Aufstieg der Rechtspopulisten bis auf die Knochen frustriert.

Milo Raus (gegen-)globalisierte Kunstpraxis und das Charisma des Predigers in eigener Sache soll, so die Erwartungen, in der Wiener Öffentlichkeit ein Klima befördern, in dem Kunst und progressive Politik wieder in einem Atemzug genannt werden können. Das motiviert die starke, nahezu demonstrative Zustimmung, die ihm seit seiner Bestellung in der Stadt entgegentritt.

Bleibt die Probe am Objekt. Die fällt bei „Antigone im Amazonas“ so zwiespältig aus, wie das Projekt zweigeteilt ist. Auf der Bühne geben Frederico Araujo, der Musiker Pablo Casella, die Genter Schau­spie­le­r:in­nen Sara De Bosschere und Arne De Tremerie den Botenbericht. Botschaft sind Videoeinspielungen aus der gemeinsamen Arbeit in Brasilien. Kay Sara, die Darstellerin der Antigone, die sich im Pandemiejahr 2020 mit einer übertragenen Rede an das Wiener Publikum wandte, hatte als letzten Schritt der Aneignung zwischenzeitlich beschlossen, Theater nur noch für die eigene indigene Gemeinschaft zu spielen.

Morgens indigene Kosmologie, mittags Mathematik

Der Film ist dann auch dort am stärksten, wo er jenseits des Antigone-Motivs die ökonomischen und lebensweltlichen Strategien von Menschen zeigt, die mit hochdifferenzierten kulturellen Kompetenzen ausgerüstet in zwei Welten leben, ihre Kinder morgens indigene Kosmologie und mittags Mathematik lehren.

Mit einer Erfahrung mehr und ohne „Geschichte“ vom Amazonas zurückzukehren, ist im Kunstkontext allerdings keine Option. So werden dann doch alle medialen und dramatischen Konventionen aufgeboten, die zuverlässig Emotionen erzeugen. Das erwähnte Massaker ist in der Dynamik von Splattermovies atemberaubend nachgestellt. Das Ende der Tragödie wird zum opernhaften Feuerzauber, der die Indigenen in Statisten einer pasolinihaften Filmsprache verwandelt.

Katharsis ist die falsche Antwort auf die richtige Frage. Wie können wir für Menschen, die um ihre Existenz wie um das Ökosystem Amazonas kämpfen, nützliche Verbündete werden? Dem Unwohlsein, den Jubel und stehende Ovationen hervorrufen, möchte man mit einer der letzten Einsichten antworten, die das Theater der Welt noch entgegenbringt: „Glotzt nicht so romantisch!“

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