Armenien und Aserbaidschan: Hoffnung im Südkaukasus
Es könnte das Ende des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan einleiten: Ab Sonntag verhandeln die Staats- und Regierungschefs beider Staaten.
A uf einmal geht alles sehr schnell: Nach den Gesprächen Anfang Mai zwischen den Außenministern aus Armenien und Aserbaidschan in den USA wird ab Sonntag der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, ein Treffen mit dem armenischen Premierminister Nikol Paschinjan und dem aserbaidschanischen Staatspräsidenten Ilham Alijew in Brüssel ausrichten. Es könnte ein zentraler Schritt hin zu einem wirklichen Friedensvertrag noch in diesem Jahr werden.
Am 1. Juni stoßen dann Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron dazu, wenn sich Alijew und Paschinjan wie geplant in Moldau beim Summit der Europäischen Politischen Gemeinschaft erneut treffen. Die EU hat sich seit letztem Jahr in eine überraschend zentrale Position gespielt. Ob beabsichtigt oder nicht, in dieser Position trägt sie aktuell die Hauptverantwortung für eine Annäherung der Konfliktparteien – und wird dieser Verantwortung hoffentlich gerecht.
Wenn man bedenkt, wie viele gefährliche und gewalttätige Zwischenfälle es allein in diesem Jahr bereits auf lokaler Ebene, vor allem im Grenzgebiet der beiden Länder, gegeben hat, ist das eine bemerkenswert positive Entwicklung. Zuletzt wurden am vergangenen Donnerstag bei Schusswechseln mit großkalibrigen Waffen in der Region Sotk ein aserbaidschanischer Soldat getötet und vier armenische Militärangehörige verletzt.
Bereits am 23. April hatte Aserbaidschan einen Kontrollpunkt auf der einzigen Straße errichtet, die die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Region Bergkarabach in Aserbaidschan mit Armenien verbindet – dem Latschin-Korridor – und ignorierte damit auf eklatante Weise ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs, der Baku aufgefordert hatte, die seit vergangenem Dezember bestehende Blockade der Enklave zu beenden.
Furcht vor neuer Offensive
Schon vor Sperrung des Latschin-Korridors war es Anfang April zu einem Zusammenstoß zwischen armenischen und aserbaidschanischen Einheiten an der Grenze gekommen, bei dem sieben Soldaten zu Tode kamen. Den Ernst der Lage machte auch der deutsche Leiter der EU-Mission in Armenien (EUMA), Markus Ritter, in einem aktuellen Interview mit der Deutschen Welle deutlich: „Viele Armenier glauben, dass es eine Frühjahrsoffensive von Aserbaidschan geben wird. Wenn dies nicht geschieht, ist unsere Mission bereits ein Erfolg.“
Die Beobachtungsmission EUMA besteht, sobald sie voll einsatzfähig ist, aus 100 unbewaffneten Mitarbeiter:innen, von denen etwa 50 als Beobachter:innen tätig sein werden. Baku beschwerte sich mehrfach über die Mission als potenzielles Störelement für den Dialogprozess zwischen den beiden Ländern und hat bis heute auch die Anwesenheit der Beobachter:innen im armenisch-aserbaidschanischen Grenzgebiet nicht offiziell akzeptiert.
Armenien hingegen hofft, dass die Mission allein durch ihre Präsenz im Grenzgebiet die Zahl der Zwischenfälle reduzieren und trotz ihrer überschaubaren Größe wie eine Art Schutzschirm wirken könnte. Um weitere Spannungen mit Baku zu vermeiden, informieren die Mission und der EU-Sonderbeauftragte Toivo Klaar Aserbaidschan im voraus über geplante Routen für Beobachtungsfahrten im Grenzgebiet.
Die Beilegung des jahrzehntelangen Konflikts zwischen den beiden ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan würde weitreichende geopolitische Konsequenzen mit sich bringen. Zur Erinnerung: Im Herbst 2020 eskalierte der Konflikt zum zweiten Karabach-Krieg. Aserbaidschan gelang es, große Teile des zuvor von Armenien besetzten Gebiets zurückzuerobern. In diesem Krieg verloren schätzungsweise 7.000 Soldaten ihr Leben, bis Russland im November 2020 einen Waffenstillstand vermittelte.
Russischer Einfluss geht zurück
Beide Länder vereinbarten, dass ein Kontingent russischer Friedenstruppen den Waffenstillstand in dem Teil Karabachs überwachen sollte, den Aserbaidschan bis dahin nicht zurückerobert hatte. Ein wichtiges Ziel dieser Friedenstruppen war es auch, durch die Kontrolle des Latschin-Korridors zwischen Armenien und Karabach, der wichtigsten Versorgungsroute zwischen der Enklave und Armenien, weitere Eskalationen zu verhindern.
Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine geht die Bedeutung der russischen Friedenstruppen vor Ort zurück. Das birgt die Chance für mehr europäischen Einfluss in der Region. Im März und August 2022 gelang es Aserbaidschan erneut, in begrenztem Umfang zusätzliches Gebiet in Karabach zu gewinnen. Mit dem Angriff auf armenisches Territorium am 13. und 14. September eskalierte der Konflikt weiter.
Mehr als 300 Menschen wurden getötet und etwa 7.600 mussten aus den Regionen Gegharkunik, Vayots Dzor und Syunik fliehen. Armenien wandte sich daraufhin noch im September mit dem Hilferuf an die EU, eine zivile Mission zu entsenden, die die Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan überwachen sollte.
ist stellvertretender Leiter der Analyse am Berliner Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) und beschäftigt sich dort vor allem mit den Einsätzen der EU.
Kurz darauf, am Rande des ersten Treffens der Europäischen Politischen Gemeinschaft am 6. Oktober, trafen Präsident Alijew und Premierminister Paschinjan zusammen und bekräftigten nicht nur die Souveränität und territoriale Integrität des jeweils anderen Landes, sondern einigten sich auch auf einen Prozess zur Demarkierung der gemeinsamen Grenze. Eine zweimonatige europäische Beobachtungsmission, die EU Monitoring Capacity (EUMCAP), sollte dies unterstützen.
Gefährliche Mission
Bereits zwei Wochen später trafen 40 Beobachter:innen vor Ort ein. Als EUMCAP am 19. Dezember 2022 endete, hinterließ die EU eine Planungsmission zur Vorbereitung einer dauerhaften zivilen EU-Mission. Die neue EU-Mission in Armenien (EUMA) nahm Ende Februar 2023 in einem im Vergleich zu EUMCAP deutlich erweiterten Einsatzgebiet entlang der gesamten Grenze Armeniens zu Aserbaidschan ihre Arbeit auf.
Neben der Patrouillenarbeit hat sie die Aufgabe, lokale Kommunikationskanäle und Deeskalationsmechanismen zwischen den Konfliktparteien aufzubauen. Außerdem wird sie die Demarkation der Grenze weiterführen und trilaterale Gespräche zwischen der EU, Armenien und Aserbaidschan zur Lösung des Konflikts unterstützen. Die EUMA hat ein Mandat für zwei Jahre und hat ihren Hauptsitz in Yeghegndsor, mit Außenstellen in Kapan, Goris, Jermuk, Martuni und Ijevan.
Russland betrachtet die Mission als Versuch, den russischen Einfluss in der Region zu verdrängen. Tatsächlich ist die russische Präsenz vor Ort bislang noch enorm, denn zusätzlich zu den 2.000 Friedenstruppen in Karabach hat Russland fast 3.000 Militärs und Grenzschutzbeamte des Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB) in Armenien stationiert, die unter anderem die Staatsgrenze zum Iran kontrollieren.
Problematisch ist, dass sich die Friedenstruppen in einer Art Konkurrenz zur europäischen Mission betrachten, anstatt mit ihr zu kooperieren. So blockierten Einheiten des russischen Geheimdienstes mehrere EUMCAP-Patrouillen an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze. Die neue Mission muss darüberhinaus aufpassen, dass sie an Stellen, an denen die Grenzziehung zwischen Armenien und Aserbaidschan unklar ist, nicht selbst mit ihrem Personal in heikle Situationen gerät.
Energiepartnerschaft birgt Chancen
Eine weitere Herausforderung für die EU besteht darin, ihre wachsende Energiepartnerschaft mit Aserbaidschan nicht zu gefährden, sollten die Spannungen zwischen Baku und Eriwan zunehmen. Gas und Öl aus Aserbaidschan sind (ein noch kleiner) Teil der Bemühungen der EU, russische fossile Brennstoffe zu ersetzen. Im Juli letzten Jahres unterzeichnete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein Abkommen mit Präsident Alijew, das die Gaslieferungen aus Baku bis 2027 mehr als verdoppeln wird.
Eine Möglichkeit für die EU wäre, ihre ambitionierte Global-Gateway-Initiative als weiteren Anreiz für die Kooperation mit beiden Ländern zu nutzen, indem sie Armenien anbietet, sich ihrem Vorzeigeprojekt mit Georgien, Rumänien und Aserbaidschan anzuschließen, dem Unterseekabel für grüne Energie, welches durch das Schwarze Meer verlegt werden soll.
Ein verstärktes Engagement im Rahmen der EUMA und die von Ratspräsident Michel geführten Gespräche sind nicht nur eine Gelegenheit für die EU, einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Konflikts zu leisten – sie könnten auch einen Wendepunkt für den gesamten Südkaukasus darstellen, wo Russland als traditioneller Sicherheitsgarant infolge des Angriffs auf die Ukraine um seinen Einfluss ringt.
Deutschland leistet aktuell den größten Beitrag für den Einsatz in Armenien, nicht allein stellt es den Missionsleiter, sondern auch etwa 15 Prozent des EUMA-Personals – das bei Weitem größte nationale Kontingent aller EU-Mitgliedstaaten. Berlin könnte anders als Paris, das in Baku den Ruf hat, es handele lediglich im Namen der großen armenischen Gemeinschaft in Frankreich, als neutraler Vermittler auftreten.
Sowohl Bundeskanzler Scholz als auch Außenministerin Annalena Baerbock haben in ihren jüngsten Reden den deutschen Beitrag zur EUMA hervorgehoben. Und auf der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) im Februar 2023 trafen Alijew und Paschinjan jeweils einzeln mit Charles Michel zusammen, bevor sie ein wenig konstruktives öffentliches Podium teilten. Dass nun Macron und Scholz im Juni gemeinsam zu den Gesprächen mit Alijew und Paschinjan dazustoßen werden, mag die Bedenken Aserbaidschans gegenüber einer Beteiligung Frankreichs etwas reduzieren. Das Engagement der EU im Südkaukasus hat sich seit letztem Jahr sukzessive ausgeweitet.
Im Jahr 2023 verfügt die EU nun über eine gute Kombination von Instrumenten für den Konflikt, die bereits jetzt zu hoffnungsvollen Entwicklungen führen: die EUMA durch ihr Monitoring und den Demarkationsprozess, die Dreiergespräche zwischen Michel, Paschinjan und Alijew sowie die langjährige Arbeit des EU-Sonderbeauftragten für den Südkaukasus und Georgien. Für Armenien und Aserbaidschan können die Gespräche in Brüssel eine einmalige Chance für den Frieden bieten – auch wenn die erneuten Zwischenfälle vor Ort sehr beunruhigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!