Milo Rau über Inszenieren im Amazonas: Das radikale Nein

Keine Bewegung habe ihn so beeindruckt wie die Landlosenbewegung. Mit Überlebenden des Massakers inszenierte Rau „Antigone im Amazonas“.

Menschen liegen auf einem schlammigen Weg von Uniformierten umzingelt, dazwischen Milo Rau

Milo Rau diskutiert mit Po­li­zis­t*in­nen bei den Proben Foto: Philipp Lichterbeck

In den vergangenen Wochen probte ich in Pará, dem Amazonas-Staat Brasiliens, an einer Neufassung der „Antigone“ von Sophokles. In seinem nördlichsten und politisch gewalttätigsten Bundesstaat gleicht Brasilien weniger einer Nation als einem ökonomischen Prinzip. Auf gewaltigen Monokulturen werden von Großkonzernen, die die Landwirtschaft von der Aussaat bis zum Verkauf kontrollieren, Soja, Palmöl und Rindfleisch hergestellt. Allein die für Mais und Soja genutzte Fläche entspricht zweimal der Größe des einstigen Kolonisators Portugal.

Milo Raus Theaterproduktion „Antigone im Amazonas“ feiert am 13. Mai am belgischen Theater NTGent Premiere. Teil der Inszenierung sind nicht nur Filmaufnahmen des Massaker-Reenactments vom 17. April, sondern auch eine internationale Kampagne gegen Greenwashing und die Zerstörung des Amazonas durch transnationale Lebensmittelkonzerne. Zu seiner politischen Ästhetik ist gerade Milo Raus neues Buch „Was Theater kann“ (Geparden Verlag) erschienen.

Noch entscheidender ist aber: Über die Hälfte der landwirtschaftlichen Flächen Lateinamerikas sind in den Händen von einem einzigen Prozent der Bevölkerung – meist den direkten Nachkommen der ehemaligen Kolonisatoren und Sklavenhalter.

Mit der industriellen Monster-Produktion gehen, wenn auch seit einigen Jahren hinter „grünen“ Zertifikaten und der neoliberalen Rhetorik der „Nachhaltigkeit“ versteckt, die Entwaldung des Amazonas und die Vertreibung der indigenen Völker einher. Daran änderte auch die Landreform nichts, die seit den 60er Jahren auf ihre Umsetzung wartet. Sie hätte für eine demokratische Verteilung der kolonialen Latifundien sorgen sollen, wurde aufgrund des Widerstands der großen Agrarkonzerne aber nicht einmal im Ansatz realisiert.

Die Landlosenbewegung MST

Weshalb 1984, direkt nach dem Ende der Militärdiktatur, die Landlosenbewegung MST (portugiesisch Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra) gegründet wurde: die größte Bewegung landloser Bauern in Lateinamerika, die sich für eine radikale Landreform und eine ökologische Landwirtschaft einsetzt.

Keine andere soziale Bewegung hat mich je so beeindruckt wie die MST: Mit Besetzungen und Enteignungen konnte sie bereits Landtitel für über 400.000 Familien erkämpfen. Kein Wunder, dass MST seit ihrer Gründung von den mächtigen brasilianischen Agrotrusts bekämpft wird, jährlich werden Dutzende von Aktivistinnen ermordet – oder verschwinden spurlos.

Die traumatischste Attacke der Staatsmacht trug sich nahe der Stadt Marabá im brasilianischen Amazonas-Staat Pará zu. Dort wurden am 17. April 1996 auf einer Straße durch den Regenwald des Amazonas 19 Aktivisten anlässlich eines „Marsches für die Landreform“ von der Militärpolizei erschossen – bis heute kam es zu keinem tragfähigen Prozess.

Milo Rau und Ailton Krena schauen zusammen in ein Buch

Regisseur Milo Rau und der indigene Philosoph und Kapitalismuskritiker Ailton Krenak Foto: NTGent

Antigone im Amazonas

Auf Einladung der Landlosenbewegung begann ich im Frühjahr 2020 gemeinsam mit den Überlebenden des Massakers das Stück „Antigone im Amazonas“ zu inszenieren. Eine passendere Folie für den bürgerkriegsähnlichen Kampf um Land in Brasilien zu finden als das 2.500-jährige Stück von Sophokles, wäre schwer gewesen: „Antigone“ ist die Geschichte des Tyrannen Kreon, der seine Macht um jeden Preis erhalten will – und Antigones, die sich ihm widersetzt.

Der moderne kapitalistische Staat tritt gegen die traditionelle Gesellschaft an, das Prinzip der Verwertung und des Fortschritts gegen das Prinzip des Gleichgewichts von Mensch und Natur, Leben und Tod. Dem „Staatsfeind“ Polyneikes, der Kreon herausfordert, wird sogar das Begräbnis verweigert – wie vielen der ermordeten und dann verschwundenen Aktivistinnen der MST in den letzten Jahrzehnten.

Eine indigene Schauspielerin und Aktivistin, Kay Sara, spielt in unserer „Antigone im Amazonas“ die Hauptrolle, der Seher Teiresias wird von dem indigenen Philosophen und Kapitalismuskritiker Ailton Krenak gespielt. Die Darstellerin der Ismene, Antigones Schwester, wuchs in einem Quilombo auf, in einer ursprünglich von entlaufenen Sklaven gegründeten Gemeinschaft.

Der Chor schließlich besteht aus den Überlebenden des Massakers von 1996, dazu kommen Schauspielerinnen aus Europa und dem Süden Brasiliens: ein Cast, so widersprüchlich wie die brasilianische Gesellschaft selbst.

In der Pandemie Proben online

Die erste Probenphase war von Covid unterbrochen worden (ich berichtete in dieser Zeitung), wir gründeten die „School of Resistance“ und arbeiteten online weiter. Im März 2023 schließlich begann die Probenarbeit an „Antigone im Amazonas“ von neuem, und am 17. April besetzten wir gemeinsam mit Hunderten von Aktivistinnen die Bundesstraße durch den Regenwald, am Ort und zum Jahrestag des Massakers. Gemeinsam mit den Überlebenden reenacteten wir das brutalste Beispiel brasilianischer Polizeigewalt – bis in alle Details.

Die Sperrung der Straße, auf der Tausende von Lastern täglich Eisenerz, Soja, Holz, Palmöl und Rindfleisch an die Küsten bringen, provozierte einen Skandal in den brasilianischen Medien. Ein Fake, eine Provokation sei die Reinszenierung des Massakers durch die Überlebenden und ihre Nachkommen, hieß es auf Bolsonaro-nahen Blogs und Portalen. Die Bundespolizei versuchte im letzten Augenblick, die Aufführung zu verhindern, was aber angesichts der versammelten 500 Aktivisten, Politiker und Journalisten nicht gelang.

Und wie so oft, wenn vergangenes Unglück reenactet wird, lag in dem radikalen künstlerischen Akt der Aneignung und Dissidenz ein Vorglänzen zukünftiger Gerechtigkeit. Die Besetzung einer der Hauptschlagadern der Zerstörung des Amazonas wurde für einige Tage zum Laboratorium einer Gegengeschichte zu einem halben Jahrtausend der Eroberung, Unterwerfung und Ausbeutung.

Oder wie es eine der Überlebenden aus dem Chor beschreibt: „Es war hart, das alles noch einmal zu spielen. Aber es hat mir gezeigt, wie nötig unser Kampf ist.“ Was aber bleibt von der Aktion? Im Folgenden einige – vorläufige – Lektionen aus unserer Zusammenarbeit mit der MST.

Demonstranten stehen Soldaten gegenüber

Die Kamera ist immer dabei: Konfrontation zwischen Landlosen und Polizei während der Proben Foto: Philipp Lichterbeck

Augusto Boal und Werner Herzog

Der Chor ist die Hauptperson. Célia Maracajà, die in der „Antigone im Amazonas“ Kreons Ehefrau Eurydice spielt, ist wie Kay Sara eine indigene Aktivistin. In den 80ern arbeitete sie eine Zeitlang zusammen mit Augusto Boal und dann – eine absurde Koinzidenz – mit Werner Herzog.

Indigene oder überhaupt brasilianische Darstellerinnen traten in Herzogs „Cobra Verde“, der zum Teil in der legendären Amazonas-Goldmine Serra Pelada – 20 Minuten entfernt vom Ort unserer Straßensperrung – gedreht wurde, bestenfalls als stumme Gehilfen des Übermenschen Klaus Kinski auf. „Aber für mich waren sie die eigentlichen Hauptdarsteller“, so Célia.

Und so ist es auch in unserer „Antigone im Amazonas“: Der Chor der MST, das indigen-aktivistische Kollektiv ist der Protagonist, im Stück, bei der Besetzung und natürlich in der realen politischen Arbeit.

Während linke europäische Bewegungen oft an den Minimaldissensen ihrer Mitglieder zerbrechen – und Chöre auf europäischen Bühnen rhythmisch trainierte, aber politisch bewusstlose Klangkörper sind – spannen in der Landlosenbewegung Nachkommen der Versklavten, Wanderarbeiterinnen, indigene Aktivistinnen und queere Kämpferinnen zusammen. Es sind gerade ihre ständigen, täglich ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten, die sie vereinen und ihren Kampf unwiderstehlich machen.

Diese fast magische Macht der MST, Dissens in Energie zu verwandeln, zeigte sich auch beim Einsatz der Bundespolizei. Eine Sprecherin der MST machte den Schwerbewaffneten klar, dass die Besetzung im Sinne aller war. Das Unglaubliche geschah: Die Polizisten halfen bei der Straßensperrung – und schauten sich das Reenactment der Verbrechen ihrer Vorgänger an.

Durchsetzung der Landreform

Wir kultivieren das Land und das Land kultiviert uns: So lautet einer der schönsten Slogans der Landlosenbewegung. Als eine der ganz wenigen sozialen Bewegungen kennt der Kampf der MST nur eine einzige Forderung: die Durchsetzung der Landreform. Die Geschichte der MST ist deshalb wie erwähnt nicht nur eine Geschichte der äußeren, sondern auch der inneren Kämpfe.

Viele der Überlebenden des Massakers, die bei uns im Chor mitspielen, kamen zuerst als Goldsucher in den Amazonas, einer meiner Hauptdarsteller arbeitete in der Serra Pelada – und war damit logischer Feind der Indigenen. Sein Wunsch auf ein Stück Land steht im diametralen Widerspruch zur indigenen Kosmologie, die Land nicht als Besitz, sondern als gesamtheitliches Territorium, als geteilten Lebensraum von Mensch und Natur versteht.

Vierzig Jahre voller Auseinandersetzungen hat das Verhältnis der MST zur Landfrage in ein gesamtheitliches verwandelt, sogar der im Grund kapitalistische Begriff „landlos“ stand immer wieder zur Debatte.

Entstanden ist dadurch, im Herzen des brasilianischen Ultrakapitalismus, auf besetzten Monokulturen und Bundesstraßen, tatsächlich so etwas wie eine Nation: die von Millionen gelebte Utopie einer Ökonomie im ursprünglichen Wortsinn. Eines gemeinsamen „Hauses“ der Einheimischen und Zugezogenen, in dem Land und Landarbeiter sich gegenseitig kultivieren und Identitäts-, Besitz- und ökologische Fragen den gleichen Stellenwert einnehmen.

Brasilianische Industrie des Greenwashings

Nachhaltige Zerstörung. Wenn es einen Begriff gibt, den die Landlosenbewegung und indigene Aktivistinnen gleichermaßen ablehnen, dann ist es der neoliberale Begriff der „Nachhaltigkeit“. In den letzten zehn Jahren hat sich das brasilianische Agrobusiness in eine milliardenschwere Industrie des Greenwashings verwandelt.

Wie in einem kafkaesken Wachtraum wird die sich ständig beschleunigende Vernichtung des Regenwalds im Rahmen von abstrakten CO2-Deals, nur auf dem Papier existierenden Schutzwäldern und immer neuen „Alternativen“ für traditionelle Extraktionsmethoden als Lösung präsentiert.

Im Amazonas heißt Nachhaltigkeit: Der dringend nötige Rodungsstopp wird nicht nur aufgeschoben, sondern der Aufschub selbst wird von globalen Lobbies kapitalisiert. So kommt es, dass etwa der aus Amazonas-Soja hergestellte Biodiesel – der für riesige Rodungen verantwortlich ist und dadurch dreimal mehr CO2 verursacht als fossiler Diesel – in der EU per Gesetz jedem Treibstoff beigemischt werden muss.

Ferrero, Nestlé oder Danone

Für die Indigenen und Kleinbauern sind die Probleme aber noch viel existenzieller: Der brasilianische Konzern Agropalma etwa, Palmöl-Zulieferer von unter anderem Ferrero, Nestlé oder Danone, ist gemessen an der Zahl der gegen ihn laufenden Prozesse wegen Verbrechen gegen Mensch und Natur einer der kriminellsten Konzerne der Welt. Trotzdem verfügt Agropalma über ein halbes Dutzend grüner Zertifikate, darunter das offizielle Biolabel der EU. Und feiert, gemeinsam mit seinen europäischen Abnehmern, sein Palmöl als „sustainable“, seine Firmenphilosophie als „diverse“.

All diesen Widersprüchen – dem Fortbestand kolonialer Besitzverhältnisse, der Vernichtung der Natur und der Vertreibung der Indigenen hinter der Rhetorik der Nachhaltigkeit und der Diversität – schleudert die Landlosenbewegung das radikale „Nein“ Antigones ins Gesicht. Oder wie unser Teiresias, der indigene Philosoph Ailton Krenak, mir kürzlich sagte: „Ich will kein Elektroauto. Ich will überhaupt kein Auto.“

Auf die alteuropäische manisch-depressive Ästhetik der Eroberung und der Heldenreise auf der einen und der Schuldgefühle und der Melancholie auf der anderen antwortet MST mit einer Philosophie des fröhlichen Kampfs und des Lebens im Kollektiv. Sie ist damit, mit ihren Schulen, Kooperativen, Kongressen, Theaterstücken, Besetzungen, mit ihren Feldern und Feiern viel mehr als eine soziale Bewegung.

MST ist das radikale Nein zur kapitalistischen Wunsch- und Traummaschine, die Realutopie einer Gemeinschaft, die einer Ökologie und Ästhetik der radikalen Sorge folgt: nicht kolonisieren, sondern koexistieren, nicht zum Mars fliegen, sondern endlich auf der Erde landen! Denn „wir werden nichts kolonisieren“, so Krenak. „Das einzige, was wir kolonisiert haben, ist die Erde. Und das ist schiefgelaufen.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.