„Antigone“-Inszenierung in Berlin: Mustern entkommen

Die eigenen Grenzen überwinden: An diesem Ziel arbeitet Leonie Böhms Inszenierung „Antigone“ im Gorki Theater Berlin, bleibt aber zu allgemein.

Therapiesprech, doch die Traumata bleiben im Vagen: „Antigone“ im Gorki-Theater Foto: Ute Langkafel/Maifoto

Am Ende wälzen sich die vier Schauspielerinnen größtenteils nackt im Schlamm. Sie tanzen, schlagen sich auf die Brüste, schütteln ihre Pobacken und freuen sich über Scheiße in der Unterhose. Ein infernalischer Anblick, ein Akt der – ja, was eigentlich – befreit?

Anderthalb Stunden lang haben diese vier Frauen am Sonntagabend auf der Bühne des Berliner Maxim Gorki Theaters existenzielle Fragen miteinander verhandelt. Es ist die Premiere von „Antigone“ unter der Regie von Leonie Böhm. Es geht um Tod, um Mut, die Erbsünde. Vor allem aber geht es um die Angst davor, Grenzen zu überwinden, den inneren Schweinehund oder auch nur die eigene Komfortzone zu verlassen.

Es wird gelacht, geflucht, getanzt, geheult, gesungen. Ein Abend zum Haareraufen. Herausfordernd, mal ermüdend, mal überfordernd. Mal einfach nur nervtötend. Nach der Verzweiflung folgt hier die Überwindung in einem Akt, der unangenehm an eine Urschrei-therapie erinnert. Einmal losgebrüllt und alle Probleme sind wie weggeblasen. Wäre es doch nur so einfach.

Keine Antigone-Adaption, eher Inspiration

Grenzüberschreitung und Überwindung – das sind die zentralen Begriffe, um die es in dieser Antigone-Adaption geht. Adaption ist vielleicht das falsche Wort. Die Antigone von Sophokles ist nicht mehr als eine Inspiration für freie Assoziationen. Antigone-Motive und -Zitate dienen dazu, einen ganz und gar eigenständigen Theaterabend zu entwickeln. Wer hier ins Theater geht, um Sophokles’ Antigone zu erleben, wird sich sehr wundern.

Leonie Böhm, 41, hat sich mit dieser Art von Klassikerbearbeitungen einen Namen gemacht. Sie nimmt sich die bekannten Stoffe des Theaterkanons vor und befreit sie von allen Kausalitäten des Originaltextes. Böhm interessieren die Gedanken, die Gefühle, die das Geschehen vorantreiben. Nicht die Geschichte an sich. Heraus kommt eine intime Bestandsaufnahme menschlicher Interaktion.

Wer ins Theater geht, um sich Geschichten erzählen zu lassen, ist bei Leonie Böhm an der falschen Adresse. Wer sich von radikaler Ehrlichkeit im zwischenmenschlichen Miteinander berühren lässt, ist bei ihr genau richtig. Mit ihrem Regieansatz trifft Böhm einen Nerv. Sie ist gefragt im deutschsprachigen Theater, inszeniert an den großen Häusern in Hamburg, Basel oder Zürich. Zu den von ihr adaptierten Klassikern gehören Goethes „Faust“, Shakespeares „Romeo und Julia“ oder Schillers „Die Räuber“. Mit ihrer am Schauspielhaus Zürich erarbeiteten „Medea“ wurde sie 2021 zum Theatertreffen eingeladen.

Vorbild für Zivilcourage

Jetzt also die „Antigone“ von Sophokles: die antike Heldin, die sich der Staatsräson widersetzt, weil sie an die übergeordnete Macht der Götter glaubt. Ein frühes Vorbild für Zivilcourage. Die in der Originalvorlage jedoch nicht glücklich macht. Am Ende wird sie lebendig in einer Grabkammer eingesperrt und begeht dort kurz vor ihrer Befreiung Suizid.

Leonie Böhms Ansatz, den Antigone-Stoff allein auf das Motiv der Grenzüberschreitung abzuklopfen, ist also erst mal interessant. Zu Hilfe kommen ihr mit Lea Drager, Eva Löbau, Julia Riedler und Çiğdem Teke vier großartige Schauspielerinnen. Gleich zu Anfang werfen sie sich aufeinander, saugen aneinander und tauschen am Ende der Szene Spucke aus. Hier sind vier Schauspielerinnen, die bereit sind, gemeinsam ihre Scham- und Ekelgrenzen auszutesten.

Böhms Inszenierung setzt da an, wo es im Original noch Hoffnung gibt, wo noch offen ist, ob der nächste Schritt in den Tod führt. Oder in ein besseres Sein. Das Happy End ist noch greifbar. Der mit schwarzem Stoff abgehängte Bühnenraum erinnert zwar an das Grab, in dem Antigone am Ende des Originals lebendig begraben wird. Eine hell erleuchtete Öffnung an der hinteren Bühnenwand aber weist auf einen noch möglichen Ausweg hin.

Vielleicht ist es doch möglich, die vererbten Traumata und Verhaltensmuster zu überwinden? Was passiert, wenn sich die Menschen so sehen und lieben, wie sie sind? Wenn sie im Tod nicht allein sein müssen?

Alles wichtige Themen, von Böhms Schauspielerinnen eindringlich dargestellt. Doch leider kommt die Inszenierung über allgemeinen Therapiesprech nicht heraus. Die Traumata bleiben im Vagen. Auf die Frage, warum es erstrebenswert sein sollte, Grenzen zu überwinden, gibt es keine Antwort. Und warum, um Gottes willen, sollte alles gut sein, wenn sich nur mal alle genüsslich im Schlamm respektive ihrer eigenen Scheiße wälzen?

Theater muss nicht auf alles eine Antwort geben. Aber ein paar Hinweise wären da ganz hilfreich gewesen.

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