piwik no script img

Film über BDSM und ReitsportEva wächst ein Pferdeschwanz

Begehren zum Greifen: Das Spielfilmdebüt „Piaffe“ der Künstlerin Ann Oren erzählt liebevoll von einer Selbstbefreiung durch die Neigung zu Pferden.

Lernt eine neue Seite an sich kennen: Eva (Simone Bucio) in „Piaffe“ Foto: Salzgeber

Ziemlich sicher gibt es die „Piaffe“ auch im BDSM. Das französische Wort aus dem Reitsport bezeichnet das rhythmische Auf-der-Stelle-Traben eines Pferdes. Die Übung ist eine so genannte „Kunstgangart“, eine Verzierung des Trabs – von sich aus, ohne von einem Menschen dressiert zu sein, würde das Tier auf die komplexe und unnatürliche Bewegung verzichten. Doch Reitpferde, vor allem in der klassischen Reitkunst, erfüllen die Wünsche ihrer Reiter:innen: Es bestimmt derjenige, der die Zügel in der Hand hält.

Anders als beim „Ponyplay“, dem erotischen Spiel mit Tierrollen, das zum BDSM gehört. Denn dabei verabreden sich zwei (oder mehr) Menschen zu dominierenden und submissiven Handlungen – die vermeintliche Unterwerfung eines „human ponys“ ist also in Wahrheit eine aktive, konsensuelle Handlung. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten zwischen BDSM und Reitsport.

Zum Beispiel haben sich das reitsporttypische Material Leder in Form von Schuhen oder Kleidung sowie dort genutzte Hilfsmittel wie Peitschen, Gerten, Zaumzeug und Stricke (zum Fesseln) längst in der BDSM-Welt eingenistet. Und die beeindruckende „Piaffe“ würde so ein „human pony“ garantiert bei Bedarf ebenfalls stolz präsentieren.

Die verschlossene Eva (Simone Bucio) entdeckt die Symbolik dieser Welt nur durch Zufall: Weil ihre Schwester, die Geräuschemacherin Zara (Simon(e) Jaikiriuma Paetau) wegen einer psychischen Krankheit in eine Klinik muss, springt Eva für sie ein. Ihr Job besteht in der Vertonung eines Werbespots für ein Beruhigungsmittel namens „Equili“ – im Clip geht es um Pferde, die unter anderem die Piaffe vorführen.

Farnexperte und Soundtüftlerin

Evas erster Versuch als Foley Artist scheitert kläglich, und der genervte Regisseur fordert sie auf, sich „ein paar echte Pferde“ anzuschauen. Das tut Eva. Und es löst etwas Unerwartetes in ihr aus: Am Steiß, knapp über ihrem Hintern, wächst Eva ein prächtiger, haariger, dunkelbrauner und sehr berührungssensibler Pferdeschwanz.

Parallel werden nicht nur ihre Vertonungskünste differenzierter – die Geräusche von kauenden Pferdezähnen auf Zaumzeug ahmt sie immer glaubhafter auf der eigenen, güldenen Trense nach. Sondern es steigt auch ihr Interesse am mysteriösen Botaniker Dr. Novac (Sebastian Rudolph). Dessen Leidenschaft sind Aufnahmen von Farnen im „Kaiserpanorama“ – einer großen, zylindrischen Prä-Kino-Holzkonstruktion, durch die man Ende des 19. Jahrhunderts stereoskopische Bilder anschauen konnte.

Zwischen dem Farnexperten und der stillen Soundtüftlerin entwickelt sich eine Beziehung – der es durchaus zupass kommt, dass Dr. Novac viele seiner Farne zuweilen hingebungsvoll, aber bestimmt mit Stricken aufbindet beziehungsweise fesselt. Und dass sich sein Institut ausgerechnet in der schönen Berliner Hufeisensiedlung befindet, kann kein Zufall sein…

Jedes Bild aus „Piaffe“ wirkt auch unabhängig von der umgebenden Szene. Die freie Künstlerin Ann Oren, die mit „Piaffe“ ihr fiktionales Langfilmdebüt vorlegt, hat (teilweise auf 16-mm-Format) eine eigenwillige, sinnliche und haptische Auseinandersetzung mit dem Thema Begehren geschaffen, die sich jeglicher erzählerischer Zwangsstruktur entzieht. Das grobe, analoge, farbintensive Material gibt zuweilen den Rhythmus vor – immer wieder endet die Filmrolle ins rot-weiße Nichts, wenn auch der – im wahrsten Wortsinn – Höhepunkt der Szene naht.

Vom Fluchttier Pferd inspiriert

Liebe- und kunstvoll erzählt der Film dabei die Selbstbefreiung seiner vorsichtigen Protagonistin, die zunächst, genau wie das Fluchttier Pferd, von Angst geleitet wird. Und wenn Eva auf der Clubtanzfläche in Turnschuhen und Söckchen die Piaffe wagt oder beherzt und frisch gestriegelt in Richtung des charmanten Farnfans galoppiert, um unter seinen Händen zu dem großartigen 50er-Jahre-Hit „Kasztany“ (Kastanie) der polnischen Sängerin Natasza Zylska vor Erregung zu zittern wie eine aufgeregte Stute im Winter, freut man sich, dass sich zwei In­di­vi­dua­lis­t:in­nen gefunden haben.

Der Film

„Piaffe“. Regie: Ann Oren. Mit Simone Bucio, Sebastian Rudolph u.a. Deutschland 2022, 86 Min.

Orens Geschichte propagiert jedoch nicht einfach die simple Botschaft der sexuellen Selbstbestimmung als Lösung für alles. Es steckt mehr drin: Dass zwei Geschlechter, und damit auch konventionelle Paar-Vorstellungen, längst nicht genug sind, dass es an der Zeit ist, andere, erweiterte Beziehungen und Identitäten zuzulassen, erklärt der kundige Pflanzenkundler anhand seiner Lieblingsgewächse. „Unsere Vorstellungen von männlich und weiblich sind unzureichend, um Farne zu verstehen, die beides zugleich sind“, raunt er seiner warmblütigen Pferdefreundin kurz vor dem Sich-Näherkommen zu.

Gleichzeitig zelebriert „Piaffe“ eine Hommage an die Gewerke des Films und an die Entwicklung der laufenden Bilder. Es ist ein Fetischfilm, in dem das Kino selbst zu einer Art Fetisch wird: In seiner Konzeption von Farnen im Peepshow-ähnlichen Kaiserpanorama-Setting, über die Entstehung von Filmsound bis zum sich dem Plot unterordnenden Retro-Material erinnert er an Kinoliebesfilme wie Giuseppe Tornatores Drama „Cinema Paradiso“ von 1988, in dem eine selbst zusammengeschnittene Rolle aus verbotenen Kussszenen am Ende gegen die konservative Umgebung rebelliert. Oder Michel Gondrys Komödie „Abgedreht“, in dem das leicht löschbare Format (VHS-Cassette) die Geschichte vorantreibt.

Der 2016 entstandene russische Film „Zoologiya“ von Ivan I. Tverdovsky stand zudem ebenfalls Pate. Auch dort wuchs einer unauffälligen und tierliebenden Frau plötzlich ein animalisch wirkender „tail“, ein Schwanz am Steiß – mit dem sich ein neues, sexuell erfüllendes Leben ankündigt: Frauen mit Schwanz scheinen sich viele Türen leichter zu öffnen.

Ein freies, bezauberndes und ungewöhnliches Zwitterwesen aus Film, Kunst, BDSM und Kinogeschichte

In ihrem 2020 entstandenen Kurzfilm „Passage“, in dem der/die genderfluide Per­for­me­r:in Simon(e) Jaikiriuma Paetau schon in der Hauptrolle eines Foley Artists mit frisch gewachsenem Pferdeschweif zu sehen war, hatte die in Tel Aviv geborene und in Berlin lebende Regisseurin Ann Oren das in „Piaffe“ angedeutete Thema bereits vor zwei Jahren auf beeindruckende Weise künstlerisch bearbeitet: „Passage“ ehrte einen der Vordenker des heutigen Films, den Fotografie-Pionier Eadweard Muybridge.

Mit Bildern eines galoppierenden Pferdes hatte Muy-bridge im Jahr 1878 zum ersten Mal die einzelnen Phasen einer (in diesem Fall animalischen) Bewegung fotografisch festhalten können. Seine zwölf nebeneinanderstehenden Kameras, die über einen Draht Millisekunden nacheinander von den Pferdehufen ausgelöst wurden, revolutionierten die Darstellung des Galopps – man hatte vorher nicht geglaubt, dass sich bei dieser Gangart alle vier Hufe gleichzeitig in der Luft befinden könnten. Nebenbei waren Muybridges Forschungen wegweisend für das Kino und seine Effekte.

Auch das alles zitiert Ann Oren in ihrem innigen Langspielfilm. Sie orientiert sich bei den Szenenlängen und dem Schnittrhythmus (Montage: Ann Oren, Haim Tabakman) an der erwünschten Wirkung des Bildes statt an der Stringenz der Erzählung, reichert die Geschichte mit der schon ewig innewohnenden Symbolik an – seit Jahrtausenden wird das Pferd in der menschlichen Sexualität mit Bedeutung aufgeladen – und geht damit konsequent einen eigenen künstlerischen Weg.

„Piaffe“ ist ein freies, bezauberndes und ungewöhnliches Zwitterwesen aus Film, Kunst, BDSM und Kinogeschichte. Vielleicht gefällt er sogar ein paar erwachsen gewordenen Pferdemädchen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 /