Dokumentarfilm „Mi país imaginario“: Die Revolte ist jung und feministisch

In seinem Dokumentarfilm über politische Aufstände in Chile wechselt der 81-jährige Regisseur Guzmán zwischen Wirklichkeit und Vorstellung.

Eine vermummte Frau mit Gasmaske schaut in die Filmkamera

Eine Protestlerin aus „Mi país imaginario“ Foto: Patricio Guzmán

Wer ein Feuer filmen will, muss vor Ort sein, bevor die erste Flamme auftaucht. Gleich zu Beginn des Dokumentarfilms „Mi país imaginario“ erinnert sich der inzwischen 81-jährige Regisseur Patricio Guzmán an diesen Rat seines Mentors Chris Marker, der ihn in den 1970er Jahren bei der Arbeit an der Trilogie „Die Schlacht von Chile“ über die Konterrevolution nach dem Sturz des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende unterstützt hatte.

Der Funke im Oktober 2019 in der Hauptstadt Santiago ist der Unmut von Schülern und Studenten gegen die Erhöhung der Fahrpreise, der sich schnell zu landesweiten Protesten auswächst. Der in Paris lebende Guzmán ist jedoch nicht vor Ort. Erst später reist er mit seinem Kameramann Samuel Lahu in seine alte Heimat, um begeistert festzuhalten, wie die Jugend für ein besseres Leben kämpft und ihre Wut über das Regime lautstark zum Ausdruck bringt, auch gegen das schwer bewaffnete und brutal vorgehende Militär, die Präsident Piñera auf die De­mons­tran­t*in­nen hetzte.

Guzmán zeigt die Straßenkämpfe, verschweigt auch die zahlreichen Opfer der Staatsgewalt nicht, sucht aber immer wieder die Aufbruchstimmung der Revolte und das kreative Potenzial, das sich etwa im Gedicht eines Frauenkollektivs manifestiert, das hundertstimmig erklingt, oder in den Mauern, die mit Protestbildern bemalt werden und damit immer mehr ansteckt. Die Rebellion ist nicht nur jung, sondern auch feministisch, das spiegelt Guzmán in seinem Film wider, indem er fast ausschließlich Frauen zu Wort kommen lässt.

Zahlreiche Aktivistinnen, Analystinnen und Sympathisantinnen machen deutlich, dass aus dem anfänglichen Prozess eine Bewegung wurde, die verstanden hat, dass sozialer Fortschritt nur möglich ist, wenn patriarchale Strukturen überwunden werden und alle Teile der chilenischen Gesellschaft Teilhabe an demokratischen Entscheidungen haben.

Seit 1973 im französischen Exil

Guzmán ist, wie viele andere, nach Pinochets Militärputsch 1973 geflohen und lebt seitdem im französischen Exil. Seine alte Heimat hat ihn nie losgelassen, Chile ist immer wieder Thema seiner essayistischen Dokumentarfilme, wie in „Nostalgie des Lichts“, „Der Perlmuttknopf“ und „Die Kordillere der Träume“. Der letztere, aus dem Jahr 2019, handelt vom Gestein der chilenischen Anden und deren vielschichtige Rolle in der wechselvollen, oft gewalttätigen Geschichte des Landes.

In seinem neuen Film tauchen die Steine wieder auf, nun in den Händen der Protestierenden, die sie als Wurfgeschosse gegen ihre Unterdrücker verwenden. Guzmáns dokumentarisches Schaffen ist eine Auseinandersetzung mit seiner Heimat aus der Ferne, und bei aller authentischer Repräsentation auch immer ein Stück weit Vorstellung, Phantasma. Und so nennt er seinen neuen Dokumentarfilm gleich „Das Land meiner Träume“. Es ist ein hoffnungsvoller Blick auf Chile, die Begeisterung für die junge Bewegung ist immer wieder mitreißend. Und er zieht interessante Parallelen zum politischen Frühling der Reformen Allendes ein halbes Jahrhundert zuvor.

Doch bei aller Euphorie und Engagement erweist sich Guzmáns Film als bitteres Zeitdokument, das bereits vor der Uraufführung vergangenen Mai in Cannes von der politischen Realität eingeholt wurde. Zwei Monate nach Ende der Dreharbeiten wurde die neue Verfassung, von einem Konvent um die indigene Linguistin Elisa Loncón erarbeitet, in einem Referendum von der Bevölkerung abgelehnt. Bei allem Kampfgeist auf den Straßen Santiagos war unterschätzt worden, wie stark der Widerstand gegen den progressiven Entwurf vor allem bei den Menschen in ländlichen Gebieten offenbar ist.

Das auszublenden, ist eine klare Haltung dieses bewusst subjektiven Blicks, aber auch seine Schwäche. So erzählt „Mi país imaginario“ von einem Traum, der sich bislang nicht erfüllt hat. Und endet mit einer Rede des 1986 geborenen Linken Gabriel Boric für Frauenrechte, Monate bevor er im März 2022 zum jüngsten Präsidenten Chile gewählt wurde. Ein neuer Funke der Hoffnung.

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