Schwarz-rote Koalition in Berlin: Mann ohne Vergangenheit
Wenn die SPD wie versprochen mitzieht, wird Kai Wegner am Donnerstag im Abgeordnetenhaus zum Regierenden Bürgermeister gewählt.
Auch an jenem warmen Augustmorgen war das so, als Wegner bei einer Grundschule in Köpenick vorbeischaute, sich aufmerksam und als ob es nichts Drängenderes gäbe, den Wunsch nach einer größeren Mensa anhörte und dabei Kartoffeln mit Gemüse aß. Persönlich glaubhaft, aber völlig unrealistisch schienen seine Sätze angesichts von nur 16 bis 17 Prozent für die CDU in den Meinungsumfragen.
Mehr als dreieinhalb Jahre ist das her. Bei Rot-Rot-Grün konnte Wegner seine Ablösungsankündigung noch nicht wahr machen – aus der Abgeordnetenhauswahl im September 2021 ging die CDU nur als zweitstärkste Partei knapp vor den Grünen hervor.
Beim Nachfolgebündnis Rot-Grün-Rot hingegen klappte es: Die Wiederholungswahl vor knapp elf Wochen, vom Verfassungsgericht wegen großer Wahlpannen angeordnet, gab Wegner eine zweite Chance. Die nutzte er: 28,2 Prozent der Stimmen erhielt die CDU am 12. Februar, so viel wie noch nie in diesem Jahrhundert in Berlin, weit vor SPD und Grünen mit je 18,4 Prozent. An diesem Donnerstag vollzieht sich die Ablösung offiziell, wenn Wegner im Abgeordnetenhaus zum neuen Regierenden Bürgermeister gewählt wird und vereidigt ist – bis exakt zu jenem Moment ist laut Landesverfassung Franziska Giffey (SPD) mit der rot-grün-roten Regierung im Amt.
Der CDU-Mann, der dann das Chefbüro im Roten Rathaus übernimmt, könnte von Hintergrund und Werdegang durchaus in die klassische Aufsteigergeschichte passen, die eher von SPD-Politikern zu hören ist: nicht aus reichem Elternhaus, der Vater Bauarbeiter, die Mutter Einzelhandelskauffrau. Schulabschluss ohne Abitur – das nächtliche Jobben für einen Wachschutz soll letztlich nicht vereinbar mit aufmerksamer Unterrichtsteilnahme gewesen sein, war jüngst von ihm zu erfahren, folglich auch kein Studium.
Mit um die 20 wirkte Kai Wegner noch nicht in der Erfolgsspur Richtung Rotes Rathaus. Sein Weg: Lehre zum Versicherungskaufmann und später Mitglied der Geschäftsführung in einem Bauunternehmen. Parallel dazu der Weg durch die Partei: nach Führungsämtern bei Schüler-Union und Junger Union über alle CDU-Stationen und parlamentarischen Ebenen. 1995 kam er in die Bezirksverordnetenversammlung in Spandau, 1999 ins Abgeordnetenhaus und 2005, mit nur 33 Jahren, in den Bundestag.
Parallel dazu machte am anderen Ende Berlins ein nur wenig jüngerer, aber gedanklich wie geografisch weit von ihm entfernter junger CDUler seinen Weg: Mario Czaja, der liberale heutige Generalsekretär der Bundespartei, zu Hause in Mahlsdorf-Kaulsdorf. Dem fiel so manches leichter als Wegner, der bei Weitem nicht so gut reden konnte und auch heute nicht kann wie Czaja und dessen Haar sich schon stark lichtete, als Glatze mit kurzrasiertem Resthaar noch nicht so angesagt war wie heute.
Auch politisch trennte die beiden viel. Wegner selbst sagt sinngemäß von sich, dass er mit dem auch aus seiner Sicht sehr konservativen Kai Wegner von vor 20 und mehr Jahren nicht mehr viel anfangen könne. Und wann immer der gleichfalls in Spandau aufgewachsene, fünf Jahre jüngere SPD-Chef Raed Saleh auf den frühen Wegner zu sprechen kommt, deutet er ebenfalls schlechte Erinnerungen an.
Schon vor über einem Jahrzehnt aber fing Wegner an, sich um engere Kontakte zu den Grünen zu bemühen – noch kurz vor der Abgeordnetenhauswahl nannte er Schwarz-Grün gegenüber der taz „meine Traumkoalition“. Vor allem seine gute Beziehung zum Grünen-Fraktionschef Werner Graf, Fußballfan wie er, hob Wegner zuletzt hervor. „Werner und ich reden nicht nur über Hertha“, sagte er im Januar im taz-Interview. In den Sondierungsgesprächen nach der Wahl vom 12. Februar schien das in Berlin schier Unvorstellbare kurzzeitig in Reichweite, man sei sich näher als je zuvor gekommen, war auch von Grünen zu hören.
Zudem war Wegner eine führende Kraft, als sich 2015 CDUler in einer Fotoaktion für die Ehe für alle einsetzten – anders etwa als die immer als liberal etikettierte spätere Landesvorsitzende Monika Grütters, die das als damalige Kulturstaatsministerin mit Rücksicht auf ihre Chefin Angela Merkel erklärte.
Mario Czaja aber verortete Wegner noch 2021 weiter im rechtskonservativen Lager, er sagte im Tagesspiegel damals: „Kai Wegner ist aus meiner Sicht dichter an den Positionen von Hans-Georg Maaßen als an denen von Angela Merkel und denen unseres Bundesvorsitzenden Armin Laschet.“ Von einem „riskanten Rechtskurs“ sprach Czaja dabei. Kaum vier Wochen vor dieser Attacke hatte der von Wegner geführte Landesvorstand die Forderung Czajas nach einem sicheren Listenplatz für ihn als Ostberliner bei einem Parteitag nicht unterstützt.
Inzwischen hat der eine ohne Listenunterstützung das Bundestagsmandat in der langjährigen Linken-Hochburg Marzahn-Hellersdorf gewonnen und ist auch deshalb CDU-Generalsekretär geworden. Der andere wird, wenn die SPD im Abgeordnetenhaus wie versprochen mitspielt, seine Partei am Donnerstag nach fast 22 Jahren ins Rote Rathaus führen. Schon ein Parteitag im Sommer 2022 zeigte: Man hat sich arrangiert. Er und Wegner seien wie ein altes Ehepaar, sagte Czaja dabei, „man streitet sich zwar manchmal, aber es gibt viel mehr, was uns verbindet“.
„Schwarz, aber schillernd“ hat Berlins Ex-Regierungschef Klaus Wowereit diese Woche als Motto für Wegners Amtszeit vorgeschlagen – er selbst kreierte vor 20 Jahren in der von ihm geführten rot-roten Koalition den viel zitierten Spruch, Berlin sei „arm, aber sexy“. Den beschaulich in Kladow an der Havel wohnenden Wegner, Vater dreier Kinder, geschieden und mit seiner früheren Büroleiterin liiert – aber mit freundschaftlichem Verhältnis zur Ex-Frau, wie er jüngst der Illustrierten Bunte anvertraute – ausgerechnet mit „schillernd“ zu verbinden, klang durchaus skurril.
Aber wirkte es nicht auch höchst weltfremd, als ein zwar sehr motivierter, aber nicht sonderlich beliebter oder bekannter CDU-Politiker im Sommer 2019 neben einer Köpenicker Schulmensa den Regierungswechsel ankündigte? Und wer hätte denn geglaubt, dass der Vorsitzende einer lange von Männern dominierten konservativen Partei einst einen Senat anführen würde, in dem auf sieben von elf Plätzen Frauen sitzen? Gemessen daran könnte die Beschreibung schillernd durchaus Wirklichkeit werden.
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