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Deutscher ArbeitsmarktDen Tarifdschungel lichten

Gastkommentar von Maike Rademaker

Löchrige Tarifverträge, Sonderbelohnungen, ungeklärte Zuständigkeiten – der Wirrwarr auf dem deutschen Arbeitsmarkt schadet Beschäftigten und Firmen.

Ein Zugbegleiter der Deutschen Bahn bei der Arbeit: Was ist Belastung, und wie wird sie bezahlt? Foto: Ralph Peters/imago

W enn die Tarifrunde im öffentlichen Dienst vorbei ist, ob mit Schlichtung oder langen Streiks, wird es wieder gemütlich. Die Bahn fährt, der Müll kommt weg, und der nächste spürbare Streik liegt wieder in weiter Ferne. Verdi und EVG werden stolz verkünden, dass vor allem die unteren Einkommen einen guten Schluck aus der Pulle bekommen haben, die Arbeitgeber von schmerzhaften, aber notwendigen Erhöhungen sprechen.

Danke, und tschüs bis zum nächsten Mal? Das wäre ein Fehler. Es wird höchste Zeit, dass Tarifpartner nicht nur höhere Löhne verhandeln, sondern über den Inhalt der Tarifverträge sprechen: den Wert der Arbeit. Denn die Welt der Tarifverträge ist bei Weitem nicht so schön und harmonisch, wie sie gerne präsentiert wird. Nicht nur, weil die Tarifbindung sinkt – nicht mal jeder zweite Beschäftigte arbeitet unter dem Dach eines Tarifvertrags. Es rumst auch gewaltig in den bundesweit 80.000 Tarifverträgen. Die fehlende Debatte darüber ist eine Gefahr für anstehende Herausforderungen wie die demografische Entwicklung.

Das Problem fängt bei der Konkurrenz unter den Gewerkschaften an, die nicht nur die Lokführergewerkschaft und die EVG pflegen. Mit der Digitalisierung verschwimmen Branchengrenzen; da werden IT-Experten mal von der IG Metall, mal als Dienstleister von Verdi umworben, Solarenergieleute von der IG BCE und von der IG Metall – alle mit eigenen Lohnvorstellungen. Da sind mal im Betrieb Kantine, Reinigung und IT outgesourct und mehrere Gewerkschaften rangeln um Anteil am selben Kuchen. Da stehen in einer Branche Haustarifverträge neben Flächenverträgen neben Betrieben ohne jeden Tarifvertrag. Wo es dank Demografie richtig eng wird, greift die Personalabteilung zur außertariflichen Bezahlung oder anderen, mehr oder weniger versteckten Nasenprämien. Etwa eine „Personalgewinnungsprämie“ von zigtausend Euro, und ein monatliches Sahnehäubchen obendrauf. Was soll man auch machen? Die Fachkraft wird gebraucht. Und die Nasenprämien werden immer mehr. Beim Bayer-Konzern in Leverkusen sind von 7.000 Beschäftigten 2.500 außertariflich beschäftigt.

So what, freier Markt, ging doch bisher gut. Ja, aber in Zeiten des Fachkräftemangels, dessen erste Auswirkungen zu spüren sind, bald nicht mehr. Aus einem friedlichen Nebeneinander löchriger Tarifverträge, stillschweigend akzeptierter Sonderbelohnungen und ungeklärter Zuständigkeiten könnte eine gefährliche Konkurrenz zwischen Stadt, Land, Ost, West, kleinen und großen Betrieben und zwischen Branchen werden. Denn die Nasenprämie kann die Kommune, das Pflegeheim, die kleine Bäckerei im 3.000-Seelen-Städtchen nicht zahlen – Konzern sticht Kleinbetrieb, Metropole Dorf, Achtstundentag Schichtbetrieb. Die Verlierer: die Beschäftigten, die sich fragen, was ihre Arbeit denn nun wert ist, und in dem Tarifwirrwarr längst keine Orientierung mehr sehen.

Die Kommune, das Pflegeheim, die kleine Bäckerei können keine Nasenprämie für begehrte Arbeitskräfte zahlen

Einfach alle mal für mehr Geld streiken, rufen Freunde der einfachen Lösungen, dann wird alles gut. Wer braucht schon Tarifregeln, Tarifpolitik und anstrengende Verhandlungen? Aber wildes Streiken aller gegen alle löst die Frage nicht, welcher Job wie viel wert ist.

Der erste Schritt wäre: aufräumen im Tarifdschungel. Das geht – die Metallbranche hat es schon mal durchgemacht. Vor rund 20 Jahren hat die IG Metall gemeinsam mit dem Arbeitgeberverband sich jeden Arbeitsplatz vorgenommen und durchgeprüft. Anlass war die Erkenntnis, dass der ehemals klare Tarifrahmen völlig veraltet und zerlöchert war. In einem jahrelangen Prozess wurde also jede Handreichung, jede Jobbeschreibung neu bewertet; Tausende Unternehmen stellten ihre Lohnstruktur um. Die Lohngrenze zwischen Angestellten und Arbeitern fiel; der CNC-Fräser mit digitaler Zusatzqualifikation konnte mehr wert sein als der Sekretär im Vorstandsbüro. Der Prozess hat Zeit, Tränen, Wut und Nerven gekostet. Aber er war sinnvoll.

Marco Urban
Maike Rademaker

ist freie Journalistin für Text und Audio mit Schwerpunkt Wald, Umwelt und Arbeitsmarkt. Sie war Redakteurin bei der taz, der Financial Times Deutschland und Pressesprecherin des DGB.

Diese Fragen stellen sich heute wieder: Ist die IT-Expertin wirklich mehr wert als viele andere, nur weil viele nicht verstehen, was sie macht – und schon gar nicht, ob sie es gut macht? Nur weil der IT-Mensch (relativ) selten ist? Ist die Systemadministration im Autokonzern mehr wert als in der Stadtverwaltung? Wie viel ist die Arbeit eines Krankenpflegers wert – in München oder in einer ländlichen Kleinstadt in Mecklenburg? Zulage, Sonderzahlung, Extraurlaub – wann für wen? Was ist Belastung, und wie wird sie bezahlt: Warum gibt es in der Industrie eine Schmutzzulage, aber keine Zulage für die, die täglich Gewaltvideos aussortieren müssen? Und dass die Gleichstellung von Mann und Frau auch in allen Tarifverträgen überprüft werden sollte, ist längst überfällig.

Und die Politik lehnt sich zurück und schaut zu? Mitnichten. Maßnahmen wie gesetzlich verankerte Personalgewinnungspämien, wie im öffentlichen Dienst, schüren den Neid, statt ihn zu dämmen. Und auch wenn kaum ein Mensch den Deutschen Qualifikationsrahmen (DQR) kennt – er gehört auf den Prüfstand. Die Institution von Politik und Verbänden unter dem Dach einer Bund-Länder-Koordinierung ordnet Abschlüsse und Qualifikationen ein, sprich, ob der Meisterabschluss so viel wert ist wie der Master. Da ist dann eine Pflegefachfrau seit Jahren auf Niveau 4 – trotz Forderungen, das endlich anzuheben, trotz der Tatsache, dass die EU die Fachkraft auf Niveau 6 einordnet. Wer für sie eine bessere Einstufung in Deutschland fordert, läuft gegen Wände. Das dürfte nicht die einzige Baustelle sein.

Das große Aufräumen ist keine leichte Aufgabe, nicht für die Tarifpartner, nicht für die Politik, nicht für die Beschäftigten. Aber eine dringend notwendige. Die Verträge und Regeln aus vordigitalen, von der Nachkriegsgeneration geprägten Zeiten sind keine Basis für die Zukunft.

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3 Kommentare

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  • In einer einzelnen Gewerkschaft mag das große Aufräumen ja klappen, nur übergeordnet klappt das wegen der Tarifautonomie nicht. Und einfach größere Gewerkschaften gründen klappt auch nicht; hier ist Verdi eher Warnung als Vorreiter.

  • "Ist die IT-Expertin wirklich mehr wert als viele andere, nur weil viele nicht verstehen, was sie macht – und schon gar nicht, ob sie es gut macht? Nur weil der IT-Mensch (relativ) selten ist? Ist die Systemadministration im Autokonzern mehr wert als in der Stadtverwaltung?"

    Ja, Ja und Ja. Die Privatwirtschaft mit dem ÖD vergleichen zu wollen funktioniert aber nicht.

  • Ganz schwere Kost und doch so enorm wichtig für viele AN. Woran liegt es, dass über die (auch Notwendigkeit) Gewerkschaften, Tarifverträge, Streikrecht so wenige Bürger informiert sind? Sind sie doch eine ungemein wichtige Säule unserer Demokratie...



    Warum funktioniert die Ideologie "jeder ist seines Glückes Schmied" immer noch???