Gewalt gegen Tutsi in Kongo: So werden Warnsignale ignoriert
In der Demokratischen Republik Kongo mehren sich brutale Übergriffe gegen Tutsi. Beobachter erinnert das an den Völkermord von 1994 in Ruanda.
Fast täglich erreichen die taz grausige Fotos, Videos oder Nachrichten von Tutsi aus der Demokratischen Republik Kongo: Enthauptete und verstümmelte Leichen im Gras, gefesselte und misshandelte Männer zusammengepfercht in einem Loch. Auf einem Video aus Kalima in der Provinz Maniema liegt ein Mensch nackt auf dem Boden, er wird von einer Meute junger Männer mit Macheten verstümmelt. Auf dem nächsten Video stopft sich einer der Männer einen Fetzen Fleisch in den Mund und sagt: „Wir essen die Ruander mit Ugali.“ Ugali ist eine Art Maisbrot.
Die Grausamkeiten erinnern viele an den Völkermord in Ruanda 1994, als innerhalb von 100 Tagen rund eine Million Tutsi abgeschlachtet wurden, in organisierten Massakern durch Armee und Milizen. Die UN-Sonderbeauftragte zur Genozidprävention, Alice Wairimu Nderitu, erklärte Ende 2022 nach einer Kongo-Reise, sie sei „zutiefst beunruhigt“. Die aktuelle Gewalt sei ein „Warnsignal“, dass sich „Hass und Gewalt im großen Stil in einen Völkermord entladen“.
Aus Sicht des belgischen Menschenrechtsanwalts Bernard Maingain, der Tutsi-Gewaltopfer vertritt, sind radikale Akteure in Kongos Staatsorganen direkt veranwortlich. Er nennt im Interview mit der taz Beispiele von Polizeikommissaren, die öffentlich zu Massentötungen an Tutsi aufriefen und anschließend befördert wurden. Gegen diese hat er Klage eingereicht. „Bis heute gibt es keine offizielle Stellungnahme der Regierung dazu“, sagt er und warnt: „Das Risiko nicht nur eines langfristigen Genozids, sondern einer sehr kurzfristigen Explosion von Gewalt ist sehr, sehr hoch.“ Wenn Kongos Justiz seine Klagen nicht aufnehme, werde er sich an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wenden.
Militärgeheimdienst verhaftet Tutsi-Offiziere
„Der Völkermord ist schon in vollem Gange“, sagt der taz David Karambi, Vorsitzender der Tutsi-Gemeinschaft in Goma, Hauptstadt der an Ruanda angrenzenden ostkongolesischen Provinz Nord-Kivu. Fast täglich müsse er seine Liste der Attacken aktualisieren. Erst am Vorabend hätten Militärgeheimdienstler in Goma eine Bar gestürmt, in welcher Tutsi gerne Bier trinken. Am Tag zuvor seien 34 Tutsi im Distrikt Masisi westlich von Goma verschleppt worden und seien spurlos verschwunden.
Ruanda: Am 7. April 1994 beginnen Armee und Hutu-Milizen in Ruanda, alle Tutsi außer Landes zu jagen und zu töten. Über eine Million Menschen sterben, bis die Tutsi-Guerilla RPF (Ruandische Patriotische Front) Ruanda erobert und das für den Völkermord verantwortliche Hutu-Regime nach Kongo (damals Zaire) verjagt.
Kongo: 1996 marschiert Ruandas RPF-Armee in Zaire ein, stürzt die Regierung und bekämpft die geflohene Hutu-Völkermordarmee. Deren Anführer verbünden sich 1998 mit Kongos Regierung und gründen die Miliz FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas), die sich ab 2003 in Ostkongo festsetzt. Zur Selbstverteidigung haben Kongos Tutsi eigene Rebellengruppen gegründet, zuletzt 2012 die M23 (Bewegung des 23. März), die jetzt wieder Krieg führt. (taz)
„Es geht nicht nur um die reine Zahl von Opfern“, erklärt Karambi. „Von all diesen Taten geht die Botschaft aus: ‚Wir wissen, wo ihr seid!‘“ Ob Restaurants, Bars, Kirchen, Supermärkte – überall dort, wo sich Tutsi gewöhnlich treffen, sei die „Menschenjagd“ eröffnet.
Verantwortlich dafür sieht Karambi, wie auch der Menschenrechtsanwalt Maingain, zu einem guten Teil die Staatsorgane. Der Militärgeheimdienst verhafte sogar Tutsi-Offiziere der Armee, aber er sei „noch nicht bereit, systematische Tötungen selbst durchzuführen“, so Karambi. Das täten lokale Milizen. Kongos Regierung rief vergangenes Jahr die Bevölkerung auf, sich für die Landesverteidigung zu rüsten. Damals rückte die tutsigeführte Rebellenarmee M23, die Bewegung des 23. März, auf Goma vor. Milizen, die seit vielen Jahren rund um Goma aktiv sind, bekamen von der Armee Waffen und Uniformen. „Sie haben absichtlich Hass gegen uns gesät, um sie gegen uns aufzuhetzen“, so Karambi.
Das geschah zeitgleich mit dem neuen Eroberungsfeldzug der M23 im Ostkongo. Die 2012 gegründete Tutsi-Rebellenarmee trat im November 2021 erneut in Aktion und eroberte große Teile der Provinz Nord-Kivu. Es sind nur rund 1.000 Kämpfer, aber sie sind schlagkräftiger als Kongos Armee. Aus Kongos Hauptstadt Kinshasa hieß es sofort: Ruandas Armee ist einmarschiert. UN-Ermittler lieferten handfeste Beweise für die Unterstützung der M23 durch Ruanda.
David Karambi, Vorsitzender der Tutsi-Gemeinschaft in Goma
„Ihr Ruander, geht nach Hause!“, hieß es daraufhin in Hass-Videos. Es kam zu Angriffen gegen Tutsi. In Goma plünderten Jugendliche Läden, randalierten in einer Kirche. Am Ende musste Kongos Verteidigungsrat, der Präsident Felix Tshisekedi untersteht, die Regierung zu „Maßnahmen zur Vermeidung von Stigmatisierung und Menschenjagd“ auffordern. Tshisekedi traf Tutsi-Vertreter in seinem Amtssitz und versicherte ihnen, er wolle, dass alle Ethnien in „Harmonie und ohne Diskriminierung“ leben können.
Doch Verhandlungen mit der M23 lehnt Tshisekedi strikt ab, er beschimpft sie als „Terroristen“. Stattdessen greift die Armee im Kampf gegen die Rebellen auf die Hilfe der ruandischen Hutu-Miliz FDLR (Demokratische Kräfte zur Verteidigung Ruandas) zurück: Eine Gruppierung, die von Tätern des ruandischen Völkermordes geführt wird, die sich nach dem Massenmord in ihrer Heimat Ruanda 1994 im Kongo versteckten.
„Sie leugnen, dass sich eine Art lokaler Groll und lokaler Frust in dieser Bewegung namens M23 verbirgt“, kritisiert Historiker Aloys Tegera Kongos Regierung. Er ist Tutsi aus den Masisi-Bergen und lebt im Exil. Er hat die Geschichte der ruandischstämmigen Bevölkerungsgruppen Ostkongos erforscht. Für ihn gehen die Ursprünge der Diskriminierung auf die Kolonialzeit zurück, als die belgischen Kolonialherren auf Landkarten ethnische Gruppen einzeichneten, aber die Tutsi unerwähnt ließen. Auf dieser Grundlage argumentieren Hassprediger seitdem, die Tutsi seien keine Kongolesen, sondern Ruander.
Dabei sind einige Gegenden, die heute zu Kongo gehören, seit Jahrhunderten von ethnischen Ruandern bewohnt. Sie stellten vielerorts zahlenmäßig die Mehrheit, waren aber politisch nirgendwo vertreten – auch nach der Unabhängigkeit 1960 nicht.
Die Motivation der M23, Krieg zu führen, ist von der Geschichte der Diskriminierung der Tutsi nicht zu trennen. Auf der Liste der Forderungen, die M23-Präsident Bertrand Bisimwa im Interview mit der taz erläuterte, steht dieses Problem ganz oben: „Die Weigerung der Regierung, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die sichere Rückkehr unserer Flüchtlinge zu gewährleisten, deren Staatsbürgerschaft sie ihnen unter dem Vorwand verweigert, sie seien Ausländer.“
Wenn man heute die M23 nach ihrer Motivation fragt, dann ist die Antwort meist: „Ich will nach Hause auf unsere Farm, zu unseren Kühen.“ Die M23 sind Söhne und Töchter der Großgrundbesitzer aus Masisi, die einst ihre Almen und Herden zurücklassen mussten, um ihre Leben zu retten.
Denn Ruandas Hutu-Armee, die 1994 den Völkermord an den Tutsi organisiert hatte, floh nach ihrer Niederlage gegen die ruandische Tutsi-Guerilla RPF (Ruandische Patriotische Front) unter Ruandas heutigem Präsidenten Paul Kagame nach Kongo, damals noch Zaire. Die Völkermörder wollten sich dort reorganisieren, um Ruanda zurückerobern. Vor ihnen flohen kongolesische Tutsi-Familien nach Ruanda. Sie mussten ihre Rinderherden zurücklassen, in ihre Häuser zogen Völkermordtäter ein.
FDLR-Militärchef Sylvestre Mudacumura, der 2019 ermordet wurde, lebte jahrzehntelang im kleinen Ort Katoyi in Masisi in einem ehemaligen Tutsi-Farmhaus. Ruandas RPF-Armee rückte 1996 in Kongo ein und schwächte die Hutu-Armee. Doch ab 2003 organisierten sich die Völkermörder neu in der FDLR, quasi wie ein Staat im Staat im kongolesischen Exil. Wenn die M23 heute die Masisi-Berge erobert, dann auch, um die FDLR wieder zu verjagen.
Die meisten M23-Kämpfer wuchsen in Flüchtlingslagern in Ruanda auf, gingen dort zur Schule und zur Universität. Viele haben die ruandische Staatsbürgerschaft oder dienten gar in Ruandas Armee. Doch sie sehen sich als Kongolesen. Immer wieder formierten sie Rebellenarmeen, um ihre Heimkehr mit der Waffe zu erzwingen. Die M23 ist die jüngste davon.
Geholfen hat dies alles nichts, im Gegenteil. 2022 nahmen Übergriffe gegen die letzten noch verbliebenen Tutsi in den Masisi-Bergen dramatisch zu. Ende November 2022 verkündete Jean Buingo Karairi, Führer der Miliz APCLS (Patriotische Allianz für einen Freien und Souveränen Kongo), bei einer Parade in seiner Hochburg Kitchanga in Masisi: Er werde der Armee helfen, Kongo gegen Ruanda zu verteidigen und zur „Auslöschung“ der Tutsi beizutragen. Seine Zuhörer jubelten.
Selbst die Rinderherden der Tutsi-Farmer rund um Kitchanga bleiben seither nicht verschont. Auch davon gibt es Videos: Kälber mit durchgeschnittener Kehle; Kühe, denen man die Achillessehnen durchtrennt hat und die qualvoll im Gras verenden. „Die Rinder sind unsere finanzielle Absicherung“, erklärt der Sohn eines kongolesischen Tutsi-Farmers. „Wir verkaufen Kühe, um davon unsere Mieten zu zahlen, die Schulgebühren unserer Kinder.“ Er lebt seit seiner Jugend in Ruanda, die Farm seiner Eltern in Masisi verwaltet ein Freund aus einer anderen Volksgruppe. „Unsere Rinder zu töten, soll uns im Exil finanziell zerstören, wenn sie unser nicht persönlich habhaft werden können.“
Bis heute leben in Ruanda rund 72.000 Flüchtlinge aus Kongo, fast alles Tutsi. Manche sitzen seit 1996 in Lagern. Eine ganze Generation ist im Exil geboren, viele davon kämpfen heute in der M23. Und die Zahlen steigen wieder. Von November 2022 bis Februar 2023 flohen nach amtlichen ruandischen Angaben 4.300 kongolesische Tutsi nach Ruanda.
Ruandas Armee, die aus der Tutsi-Guerilla RPF heraus entstand, fühlt sich gegenüber den M23-Kämpfern wie ein „großer Bruder“. Man kennt sich, man hat dieselbe traumatische Vergangenheit, dieselbe Ausbildung, dieselben Feinde: die Völkermordtäter von 1994, die heutige FDLR. Vor diesem Hintergrund ist Ruandas Unterstützung ein offenes Geheimnis. Die M23 will ihre Heimat zurück, Ruandas Armee will ihre Erzfeinde in der FDLR kampfunfähig machen.
Eine Rückkehr der kongolesischen Tutsi in ihre Heimat läge im Interesse Ruandas. Mehrfach hat Ruandas Präsident Kagame gedroht, keine Flüchtlinge aus Kongo mehr aufzunehmen. „Ich weigere mich, dass Ruanda diese Last tragen soll“, verkündete er im Januar.
Gleichzeitig demonstrierten kongolesische Tutsi-Flüchtlinge in Ruandas Lagern. Sie malten Plakate: „Stoppt den Völkermord!“ Lagerchef Edison Munyakarambi im Lager Kigeme erklärte: „Wir wollen, dass die Massaker an Tutsi, einschließlich unserer Verwandten, aufhören.“ Kongolesische Flüchtlinge in Kigali reichten bei den Botschaften Frankreichs, Belgiens und Großbritanniens eine Petition ein, in der sie um internationale Hilfe baten, um die Verfolgung und Tötung der Tutsi im Kongo zu stoppen und ihnen eine Möglichkeit zur Heimkehr zu eröffnen.
Doch im Gespräch mit westlichen Diplomaten muss die taz immer wieder feststellen, wir schwer es diesen fällt, die komplexe Gemengelage in ihrer historischen Tiefe zu verstehen. Die UN-Mission im Kongo (Monusco) wurde in jüngster Zeit selbst zum Ziel aufgehetzter Kongolesen, sie verhält sich auffällig passiv. Dabei ist es ihre Aufgabe, Zivilisten zu schützen.
„Die internationale Gemeinschaft und insbesondere die UN haben in ihrer Reaktion auf die Drohungen gegen die kongolesischen Tutsi ein hohes Maß an Widersprüchlichkeit gezeigt“, mahnt gegenüber der taz Bojana Coulibaly. Die Sprachwissenschaftlerin aus den USA erforscht den Konflikt, und sie findet es auffällig, dass in „allen“ Monusco-Berichten seit Juni 2022 „absichtlich jegliche Sprache entfernt“ worden sei, die sich „auf gezielte Gewalt und Hassreden gegen die kongolesischen Tutsi bezieht“.
Dies entspräche quasi „lehrbuchartig einer „Leugnung des Völkermords, wie wir es 1994 in Ruanda gesehen haben“, sagt Coulibaly. Auch damals wollte die internationale Gemeinschaft zunächst nichts von gezielten Massakern wissen und sprach von einem interethnischen Konflikt, in den man nicht eingreifen könne.
Deswegen beschuldigt heute Ruandas Außenminister Vincent Biruta die Weltgemeinschaft auch, Warnsignale wieder nicht ernstzunehmen. „Der Grund, warum einige internationale Akteure zögern, den in der DR Kongo geplanten Völkermord anzuerkennen“, so Biruta, „liegt darin, dass er mit der Verantwortung einhergeht, einzugreifen und ihn zu stoppen.“
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