Proteste gegen die Justizreform: Der Geist von Pessach
Gestrandet in einer Stadt, in der Benjamin Netanjahu viele Wähler hat: Ein Blick auf Israel von außen und auf andere von außen.
S eit dem Morgen geht nichts mehr. Es ist der 27. März und Israel erlebt einen historischen Generalstreik, nachdem Netanjahu Verteidigungsminister Joaw Galant entlassen hat, weil er eine Aussetzung der geplanten Justizreform gefordert hatte. Fünf ältere Männer starren am Eingang eines zur Straße hin offenen Kiosks auf einen TV-Bildschirm. Sie warten auf die verzögerte Ansprache Netanjahus.
Wo wir herkommen, wollen sie wissen. „Deutschland, ah, wollt ihr Bibi nicht mitnehmen?“ Sie sitzen am Ortseingang der Stadt Petach Tikwa, wo wir wegen des Streiks zusammen mit einem russischen Juden, Anfang 20, Student, gestrandet sind. Um den Hals trägt er ein Kreuz. „Didn’t you say you were jewish. Why the hell are you wearing a cross?“, frage ich. „Pah, jewish?“, platzt es aus ihm heraus. Er winkt ab: „Am I crazy?“ Er sei Russe, sagt er sehr stolz.
Die Männer reden über die Antiregierungsproteste und warum sie gut sind. „The demonstrators make chaos“, wirft der Student ein. Auch die Männer wollen nun wissen, was mit dem Russen los ist. Putin sei vielleicht schon längst tot, der jetzige ein Double, meint er. Denn Putin hätte niemals solche Fehler begangen. „Die Ukraine völkerrechtswidrig anzugreifen?“, frage ich. „Nein, den Widerstand of the ukrainians nicht vorhergesehen zu haben.“ Und der Westen, der habe schon mal gelogen. Serbien.
An Israel interessiert ihn einzig und allein, dass er mit der israelischen Staatsbürgerschaft in die EU einreisen kann, sonst habe er nichts mit diesem Land und den Juden zu schaffen.
Reiz des Autoritären
In einem Israel, das Russland oder der Türkei gliche und mit der neuen Regierung auf dem Weg dorthin ist, würde er sich sicher wohler fühlen. Was bloß ist der Reiz des Autoritären, frage ich mich, während ich ihm zusehe, wie er eine Pizza isst. Und warum macht ihn sein Eigennutz so stolz?
Es gibt Nazis in der Ukraine, ist er überzeugt. Die israelischen Männer lachen. Einer zeigt ihm den Vogel. „Was denkst du über Israel?“, frage ich. „Israel only makes trouble in the Middle East“, antwortet er. „Und Russland?“ „Ist Sache der Politik“, antwortet er. Israel macht Ärger, Russland hat Ärger. Mit dieser Sicht steht der Student nicht alleine und schon gar nicht auf einer bestimmten Seite des politischen Spektrums.
„Über den Nahen Osten und den dortigen Dauerkonflikt kursieren Schlagwörter und Klischees, die zwar einiges über die Weltsicht derjenigen, die sie formulieren, aussagen, aber wenig über die dortigen Verhältnisse“, las ich gerade in dem kleinen Buch „Nahostkonflikt“ von Carsten Schliwski (Reclam 2023), das einführend denselben historisch aufrollt.
Schliwski thematisiert auch die sogenannte Israelkritik und die angebliche Alleinschuld Israels am Nahostkonflikt. Das Buch ist nebenbei ein unaufgeregtes Gegenmittel für manch postkoloniale Denkschablone.
Fest der Freiheit
Zurück in Deutschland gehen mir dauernd die Bilder aus Israel durch den Kopf. Die jungen und alten Menschen, wie sie inbrünstig ihr Land gegen den Autoritarismus verteidigen. Auf Instagram ploppt ein Video auf, eine junge Frau wird von einem berittenen Polizisten mit einer Rute geschlagen. Die Menge ruft „Schande“, immer wieder „Schande“. Das ist es. Diese Schande wollen die Superreligiösen und Rechten, die Autoritären. Überall.
Die Antiregierungsprotestierenden wissen, es geht um ihre Zukunft, derer sie sich nur sicher sein können, solange es dieses Land als einigermaßen demokratisches geben wird. Jetzt ist Pessach, die Geburtsstunde des Volkes Israel. Ein Fest der Freiheit. Die Protestierenden werden den Geist von Pessach zu nutzen wissen. Das ist sicher.
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