Foto-Ausstellung in Berlin: Europas Nabel wandert
Die Fotografin Patricia Morosan begab sich auf die Suche nach dem Mittelpunkt Europas. „(I) Remember Europe“ ist in der Galerie Franzkowiak zu sehen.
Lenin liegt quer im Raum. Man kann sagen, er beherrscht ihn noch im Sturz. Der gefallene Staatsgründer hängt im Hochformat, 100 mal 70 Zentimeter, links neben dem Tresen der Galerie Franzkowiak im Untergeschoss der Friedrichstadtpassagen in Mitte.
Patricia Morosan hat eine der zahlreichen Lenin-Statuen fotografiert, die bis in die Neunzigerjahre in Mittel- und Osteuropa standen. Morosan ist dafür nach Joneikiškės gefahren, tausend Kilometer von Berlin, siebzehn von der litauischen Hauptstadt Vilnius entfernt. In Joneikiškės hat der Bildhauer Gintaras Karosas 1991 mit dem Europos Parkas ein Museum und einen Skulpturenpark für zeitgenössische Bildhauerei, Konzept- und Installationskunst eingerichtet.
Der Lenin am Boden gehört dazu. Hinter ihm, er scheint aus dem Bild herausweisen zu wollen, sind ein Dutzend tote Fernsehapparate aufgetürmt. Morosans dunkel getöntes Foto wirkt wie aus einer Inszenierung von Heiner Müllers „Die Hamletmaschine“. Zum Ende des Theaterstücks aus dem Kalten Krieg tritt Hamlet „in die Rüstung, spaltet mit dem Beil die Köpfe von Marx Lenin Mao. Schnee. Eiszeit.“ Am Anfang des Totentanzes aus zerstörten Idealen und ignorierter Geschichte steht Hamlet „an der Küste“, „im Rücken die Ruinen von Europa“.
Das Europa Patricia Morosans steht noch, dem Titel ihrer Ausstellung „(I) Remember Europe“ zum Trotz. Morosan hat für ihre Arbeiten sieben Ortschaften in Mittel- und Osteuropa bereist, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten als Mittelpunkt Europas angesehen wurden.
Festgehalten in Schwarz-Weiß-Fotografien
Es sind der Stein von Suchowola in Polen – die erste offizielle Erklärung über Europas Mitte von 1775 –, dann das Denkmal an der deutsch-tschechischen Grenze auf dem Tyllenberg (Dylen), das litauische Purnuškėsunweit von Karosas’ Europos Parkas, Polotsk in Belarus, Dilowe in der Ukraine, Mõnnuste auf der estnischen Insel Saaremaa und die Bergbaustadt Kremnica in der Slowakei. Dass es das eine Zentrum des Kontinents nicht gibt und dass das alles Orte sind, Dörfchen zumeist, die kaum in den Nachrichten vorkommen, ist das Schöne daran.
Morosan hat Schwarz-Weiß-Fotografien dieser oft unspektakulären Mittelpunktmarkierungen, ihre geografischen Koordinaten und Erläuterungen rechts neben den Galerieeingang an die „theoretische Wand“ der Ausstellung, wie die Künstlerin sie nennt, gehängt. Bei der Frage, was eigentlich den jeweiligen Nabel Europas definiert, wird es interessant und politisch.
Patricia Morosan: „(I) Remember Europe“, bis 29. April, Galerie Franzkowiak, Do.–Sa., 14–18 Uhr, www.galerie-franzkowiak.de
Kartografen sind kaum aus einer Wochenendlaune unterwegs, bei denen, die die Mittelpunkte gesetzt haben, handelt es sich mit einer anonymen Ausnahme um einen königlich-polnischen Astronomen, Abgesandte des Österreichisch-Ungarischen Geographischen Instituts in Wien und staatlich bestallte Wissenschaftler generell.
Entscheidend für das Finden der geografischen Mitte ist, erklärt Morosan, wo man die äußersten Punkte Europas setzt, ob man den bloßen Kontinent zur Berechnungsgrundlage nimmt oder die ihn umgebenden Inseln dazuzählt. Die sieben verschiedenen Mittelpunkte Europas hat Morosan mit einer roten Fadenstickerei, eine osteuropäische Tradition aufgreifend, auf den individuell verschiedenen Einbänden des bibliophilen Künstlerbuches „(I) Remember Europe“ verbunden.
Partizipatives Projekt
Es stand am Anfang des Projekts, ist umfangreicher als die Ausstellung und enthält neben den Fotografien mehr Bildmaterial, einen tagebuchartigen Text Morosans, ein Vorwort der Kuratorin Sonia Voss und ein Essay der Wissenschaftlerin Marta Jecu.
„(I) Remember Europe“ ist partizipativ angelegt. Zu dem Buch wie zur Ausstellung gehören sieben Protagonisten aus jedem der sieben Mittelpunkte Europas. Morosan hat Reena, Maciej, Teresa, Hasan, Olena, Elena und Stanislav Einwegkameras gegeben und gebeten, ihr einen visuellen Brief zu schreiben. Die Kontaktbögen und die 24 Bilder lassen entstehen, was Morosan ein „multiples Narrativ“ nennt.
Die Porträtfotos der Beteiligten, die ihrer Landschaften und von alltäglicher Arbeit, Freizeit, Unterwegssein, Architektur und Wetter bilden ein europäisches Panorama, das den nüchternen Zeugnissen der Mittelpunkte eine emotionale Farbigkeit zur Seite stellt.
Auf diesen Fotos hat Patricia Morosans Europa etwas von dem, was der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk in einem der schönsten Texte zu dem Thema, seinem Essay „Mein Europa“, beschreibt: Stasiuk fährt dort mit der Eisenbahn durch Mittel- und Osteuropa. Er hört Lou Reed, liest Joseph Roth und macht den Eindruck, als sei Sehen nichts Alltägliches, sondern die Kunst, die es tatsächlich ist. Mit Patricia Morosans Fotos lässt sich noch einmal sehen lernen.
Eines der Bilder – es steht mit am Anfang des Buches, in der Ausstellung bildet es einen Ausblick – scheint abermals eine Figur in einem Raum zu zeigen. Nur ist es kein Staatenlenker, sondern ein Mädchen, das rechts aus dem Foto tanzen möchte. Im Buch steht die Auflösung: Es handelt sich um den „Nordgautag“ in Wiesau, Bayern, einer Feier von Identität und Diversität. „Flirting With Ghosts“ heißt das Foto und empfiehlt einen adäquaten Umgang mit den Geistern.
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