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Expertin über Klischees zu Autismus„Kein Mensch hat nur Schwächen“

Silke Lipinski engagiert sich für die Rechte und Interessen autistischer Menschen. Die Leip­zigerin ist selbst betroffen und forscht zum Thema.

Möchte den Umgang mit Autismus normalisieren, die Störung aber nicht verharmlosen: Silke Lipinski Foto: Thomas Victor
Eiken Bruhn
Interview von Eiken Bruhn

wochentaz: Frau Lipinski, gibt es etwas, das Ihnen dieses Interview erleichtert?

Silke Lipinski: Es ist gut, wenn Sie mich unterbrechen, weil ich selbst nicht gut bemerken kann, ob das, was ich erzähle, noch das ist, was den anderen interessiert. Oder ob ich mich vergaloppiere.

Ich frage, weil Sie mir geschrieben hatten, Sie seien sehr aufgeregt.

Jetzt ist die Aufregung nicht mehr so groß. Die Ungewissheit davor ist das Schwierigste. Wie funktioniert so ein Treffen, wie finden wir von einem Kennenlernen in eine positive Arbeitsatmosphäre? Für mich ist es am einfachsten, wenn einfach die Fragen kommen und man arbeitet los.

Im Interview: Silke Lipinski

Silke Lipinski (44) promoviert als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Klinische Psychologie Sozialer Interaktion an der Humboldt Universität zu Berlin und engagiert sich im Vorstand von Aspies, einem Verein, der sich für die Rechte und Interessen autistischer Menschen einsetzt. Sie ist verheiratet, hat zwei Patenkinder, lebt in Leipzig. Sie hat das (auch für Nicht­autist:innen lesenswerte) Selbsthilfebuch „Autismus“ geschrieben und ein weiteres mit herausgegeben (beide im Psychiatrie Verlag). (eib)

Warum haben Sie trotz Aufregung zugestimmt?

Mir ist es wichtig, über Autismus aufzuklären, weil immer noch sehr viele falsche Vorstellungen darüber in Umlauf sind und viele Betroffene selbst diesen Stereotypen unterliegen und sich als mit einem Makel behaftet sehen. Eine Freundin von mir wurde mit über 50 Jahren diagnostiziert und sie hat einen Riesenschreck bekommen, weil sie einen Satz über die RAF-Terroristen aus ihrer Kindheit im Kopf hatte: „Die sind doch alle autistisch.“

„Autistisch“ wird oft synonym mit „empathielos“ verwendet.

Das nehme ich auch so wahr – und es stimmt einfach nicht. Menschen im Autismusspektrum haben dieselbe Empathiefähigkeit – sobald sie verstanden haben, was beim anderen los ist.

Dass Au­tis­t:in­nen das nicht intuitiv erkennen können, ist eins der zentralen Symptome, richtig?

Ja. Alle denken mehr oder weniger, andere seien so wie man selbst. Das geht Au­tis­t:in­nen genauso. Deswegen muss man erst mal darüber aufgeklärt werden, dass andere Menschen mehr Informationen in Gesichtern sehen, in der Gestik, der Körpersprache, dem Tonfall als man selbst. Als Autistin muss ich lernen, wie es aussieht, wenn jemand zum Beispiel traurig ist. Das ist ein kognitiver Prozess, der Energie kostet.

Die Diagnose

Au­tis­t:in­nen ohne zusätzliche Störung der Intelligenzentwicklung wurden bisher als „Asperger-Autist:innen“ bezeichnet. Nach der neuen Definition der Weltgesundheitsorganisation gibt es nur noch „Autismus-Spektrums-Störungen“, die zu den neuronalen Entwicklungs­störungen gehören. Neben Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie repetitiven Verhaltensmustern haben Betroffene häufig mit sensorischer Über- oder Unterempfindlichkeit zu tun. Es wird angenommen, dass weltweit ein Prozent aller Menschen in das Spektrum fallen. Männer sollen drei- bis viermal so häufig betroffen sein wie Frauen. Deren Autismus bleibt häufiger unerkannt. Die Ursache ist vermutlich genetisch, da oft mehrere Familienmitglieder betroffen sind. Seit 2008 rufen die Vereinten Nationen jedes Jahr am 2. April zum Welt-Autismus-Tag auf. (eib)

Welche falschen Vorstellungen nehmen Sie noch wahr?

Dass Au­tis­t:in­nen kein Bedürfnis nach Freundschaften und Beziehungen hätten. Dabei wissen sie nur oft nicht, wie das funktioniert, und leiden dann sehr darunter.

Eigentlich ist es verblüffend, dass sich diese Klischees halten, weil es in den letzten Jahren viel Berichterstattung über das Thema gab.

Das ist ein zweischneidiges Schwert. Wir haben viele Jahre dafür gekämpft, dass mehr Wissen über Autismus in der Gesellschaft ankommt. Aber wie immer, wenn etwas im Gespräch ist, werden die Begriffe inflationär gebraucht, ohne zu begreifen, worum es geht. Vor zehn Jahren hat sich niemand getraut zu sagen: „Ich war gestern Abend ein bisschen depri“ – was oft bedeutet, dass jemand einfach nicht in Partylaune war. Mit einer krankheitswertigen Depression hat das aber nichts zu tun. Genauso ist es mit Autismus.

Mich irritiert, wie vor allem Jüngere ihre Diagnose in sozialen Medien abfeiern, egal ob Autismus, ADHS oder eine psychische Erkrankung.

Ich möchte den Umgang mit Autismus normalisieren, aber die Störung nicht verharmlosen. Ich selbst würde das gerne manchmal abgeben, einfach weil es im Alltag so anstrengend ist. Verharmlosung entsteht auch, wenn Nicht­au­tist:in­nen sagen: „Das ist doch nicht autistisch, das kenne ich auch.“

Silke Lipinski im Geisteswissenschaftlichen Zentrum Leipzig Foto: Thomas Victor

Ich bin lärmempfindlich.

Und andere sind gestresst, wenn sie viele Menschen treffen müssen, oder sind verunsichert, wenn Dinge anders als geplant verlaufen. Das, was autistische Menschen erleben, ist ja nichts, was andere nicht nachvollziehen könnten. Aber die Dimension ist für Au­tis­t:in­nen eine andere. Wenn ein Zug ausfällt, finden das alle nervig. Aber nicht alle beginnen zu weinen und stehen auf dem Bahnsteig und wissen nicht mehr, was sie machen sollen. Oder: Die meisten Menschen sind im Alter weniger flexibel, das ist normal. Aber wenn eine Zwölfjährige nicht mit auf Klassenfahrt kann, weil es dort nicht das gewohnte Essen gibt, ist das etwas völlig anderes. Der Unterschied zu neurotypischen Menschen besteht darin, dass ihre neurologische Besonderheit Au­tis­t:in­nen daran hindert, Dinge zu tun, die sie gerne machen möchten, dass sie Ziele nicht umsetzen können.

Und manche wissen nicht einmal, warum sie bestimmte Schwierigkeiten haben, weil sie nicht diagnostiziert sind.

Ja, etwa die Hälfte aller Menschen im Autismusspektrum hat keine kognitive Einschränkung …

wochentaz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

„Asperger“ hat man sie früher genannt, viele wirken unauffällig, vielleicht ein bisschen eigen …

… deshalb gibt es immer noch Personen, die erst mit über 50 Jahren ihre Diagnose bekommen oder auch gar nicht. Das liegt auch daran, dass es diese erst seit 1980 gibt. Ich bin 1978 geboren. Meine Symptome, die ich als Kind und Jugendliche gezeigt habe, konnte damals niemand einordnen, weil es eine Weile dauert, bis etwas aus der Wissenschaft in der Praxis ankommt. Das geht vielen aus dem Autismusspektrum so, wir haben einige psychiatrische Fehldiagnosen hinter uns.

Eine Journalistin erzählte in einem Rundfunkbeitrag, wie sie vor Wut weinte, als ihr klar wurde, dass ihre Depressionen, wegen denen sie seit Jahren behandelt wurde, mit ihrem unerkannten Autismus zu tun haben.

Das Durchschnittsalter für eine Autismusdiagnose bei Erwachsenen liegt bei 35 Jahren. Das ist auch das Alter, in dem ich meine Diagnose bekam.

Mögen Sie erzählen, wie es dazu kam?

Ich hatte ab dem Alter von 33 Jahren immer mehr mit Depressionen zu tun, mit Überforderung und Überlastung und habe irgendwann gar nicht mehr funktioniert. Das ging bis zum Arbeitsplatzverlust, der komplette Einbruch, bis ich zur stationären Behandlung der Depression in eine Klinik eingewiesen wurde. Dort wurde mein Autismus diagnostiziert. Später hatte ich dann das Glück, dass mir eine Psychologin vorschlug, eine Autismusselbsthilfegruppe zu besuchen.

Und?

Ich habe mich dort das erste Mal völlig normal gefühlt unter anderen Leuten. Das war einfach entspannt, ich hatte keinen Stress, mich an etwas anzupassen, das ich nicht verstehe. Und es war gut zu merken, dass andere mit ähnlichen Schwierigkeiten kämpfen und ich nicht alleine bin. Bis zur Diagnose hat es aber noch anderthalb Jahre gedauert.

Weil Sie sich nicht sicher waren, ob Sie eine haben wollen?

Das muss man sich tatsächlich genau überlegen. Das ist ein Stempel und in manchen Berufen darf man damit nicht arbeiten. Ich wollte das aber für mich geklärt haben. Nur sind die Wartezeiten bei den Spezialambulanzen und Ärz­t:in­nen, die das derzeit diagnostizieren, so lang. Momentan sind die Wartelisten sogar geschlossen. Das liegt auch daran, dass jeder, der denkt, er könnte das haben, sich dort anmelden kann. Das bedeutet, dass Personen mit massivem Leidensdruck sehr lange auf staatliche Unterstützung warten müssen, weil sie dafür eine Diagnose brauchen.

Aus Beratungsstellen habe ich gehört, dass es so gut wie keine niedergelassenen Psych­ia­te­r:in­nen gibt, die Autismus diagnostizieren können.

Ja, es wäre gut, wenn die Diagnostik mehr in der Breite passieren würde. Dann könnten die nicht so leicht zu diagnostizierenden Fälle in spezialisierte Einrichtungen überwiesen werden.

Der Frau eines Freundes wurde gesagt, im Erwachsenenalter sei es unmöglich die Diagnose zu stellen.

Das ist falsch. Die Symptome müssen aber rückverfolgbar sein über die gesamte Lebensspanne, weil es keine erworbene Störung ist, sondern eine neurologische Andersartigkeit.

Das wissen selbst Fachleute nicht, wie Sie in Ihrer Forschung zur psychotherapeutischen Versorgung herausgefunden haben. 43 Prozent der knapp 500 von Ihnen befragten Psy­cho­the­ra­peu­t:in­nen glaubten gar, Autismus sei eine Impfnebenwirkung.

Und 34 Prozent glauben an die ebenfalls längst widerlegte Theorie, dass sogenannte Kühlschrankmütter den Autismus ihrer Kinder verursachen.

Wenn sie ihnen zu wenig Liebe und Aufmerksamkeit schenken?

Genau. Stellen Sie sich mal vor, Sie gehen als Mutter zu einem Psychotherapeuten, weil sie ein autistisches Kind mit einem besonderen Bedarf haben, deswegen belastet sind und selbst Unterstützung brauchen. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:2 treffen Sie auf jemand, der Sie für ursächlich für den Autismus Ihres Kindes hält und damit für Ihre eigene Belastungssituation. Leider ist es ja auch so, dass Psy­cho­the­ra­peu­t:in­nen ihre im Hintergrund stehenden falschen Hypothesen nicht unbedingt offenlegen. Das wirkt dann implizit. Unter solchen Prämissen kann Psychotherapie nicht gelingen.

Hat Sie überrascht, wie wenig Wissen in dieser Berufsgruppe vorhanden ist?

Nur in dem Ausmaß. Wir haben diese Studien auf Anregung aus der autistischen Community mit der Autismus-Forschungs-Kooperation, einer partizipatorischen Forschungsgruppe, gemacht. Da ist es immer Thema, wie schwer es ist, The­ra­peu­t:in­nen zu finden. Manche zweifeln sogar die Diagnose an nach dem Motto „Sie können doch sprechen“, „Sie sind doch eine Frau“, „Sie sind doch verheiratet“, „Sie haben Kinder“, „Sie arbeiten doch“ …

… „Sie können mir doch in die Augen gucken“ …

… „Sie haben keine Inselbegabung“

Diese Unkenntnis liegt, schreiben Sie in einem Aufsatz, auch daran, dass Autismus in den Curricula der Universitäten und der psychotherapeutischen Ausbildungsinstitute fehlt.

Das ändert sich gerade aufgrund unserer Forschungsergebnisse und weil es Einzelpersonen gibt, die das stark vorantreiben. Im Übrigen haben auch die von uns befragten The­ra­peu­t:in­nen gesagt, dass sie sich mehr Informationen wünschen, um Au­tis­t:in­nen als Pa­ti­en­t:in­nen anzunehmen.

Nach einer Parallelstudie von Ihnen bekamen nur 22 Prozent der befragten Au­tis­t:in­nen psychotherapeutische Hilfe. Dabei ist aus anderen Untersuchungen bekannt, dass knapp drei Viertel sie sich wünschen. Ist es so schwierig, Au­tis­t:in­nen therapeutisch zu behandeln?

Nein, Sie müssen keine Spezialistin für Autismus sein oder das Rad neu erfinden. Grundsätzlich funktionieren die regulären Strategien, mit denen man etwa Angststörungen oder Depressionen behandelt, auch bei Autist:innen. Aber wenn die Therapie gelingen soll, müssen Sie ein paar Dinge wissen. Einem neurotypischen Menschen können Sie sagen, „es wäre gut, nicht so negativ auf Ihre Lebensumstände zu schauen, das sind nur Gedanken“. Wenn Sie das einer autistischen Person sagen, geht das an dem vorbei, was sie täglich erlebt. Wir fühlen uns ja nicht nur ausgeschlossen, sondern werden das tatsächlich. Das ist nicht einfach ein negativer Gedanke.

Umso wichtiger wäre es doch, dass die Betroffenen wissen, warum das so ist.

Wenn ein Leidensdruck da ist, ja. Sonst braucht es keine Diagnose. Autismus an sich ist nicht schmerzhaft. Erst in ihrem Alltag, in der Interaktion mit anderen Menschen, haben Au­tis­t:in­nen Schwierigkeiten.

Ich habe gelesen, dass fast alle sehr erleichtert sind, wenn sie ihre Diagnose bekommen.

Das stimmt. Man denkt sein Leben lang, man sei selbst schuld an seinen Problemen und müsste sich nur mehr anstrengen, weil alle anderen das doch auch können. Und dann versteht man, dass die Neurologie das nicht hergibt. Da kann erst einmal viel Last von einem abfallen.

Erst einmal?

Nach dieser anfänglichen Entlastung sickert dann halt auch ein, dass es angeboren ist und sich nie ändern wird. Das ist der Punkt, an dem viele Unterstützung brauchen, um einen Umgang damit zu finden und hilfreiche Strategien zu entwickeln.

Das muss ja aber keine Psychotherapie sein.

Nein, Beratungsangebote oder Selbsthilfegruppen bringen da auch schon sehr viel, das kann auch präventiv wirken. Übrigens nicht nur für Au­tist:in­nen.

Kann die Diagnose dazu führen, dass jemand resigniert?

Es kommt vor, dass jemand sie als Entschuldigung für schlechtes Verhalten nutzt oder aufhört, sich Mühe zu geben, nach dem Motto „Dann bin ich halt ein Trampel“.

Verstehen kann ich eine solche Haltung. Es muss schwer sein, sich an eine Welt anzupassen, die man nicht versteht.

Das ist es auch. Wenn Sie quasi in jeder Kommunikation ungefähr 90 Prozent der Informationen nicht mitkriegen, haben Sie das Gefühl, da passiert ständig etwas und Sie verstehen nicht, warum. Wenn zum Beispiel alle um mich herum plötzlich aufbrechen und ich habe die Signale vorher nicht bemerkt. Umgekehrt werden autistische Menschen oft falsch eingeschätzt, weil sie weniger expressiv sind in ihrer nonverbalen Kommunikation. Wer selbst keine Signale empfängt, sendet auch weniger. Da fragt man sich schon, ob man derselben Spezies angehört oder von einem anderen Planeten kommt.

Wäre es hilfreich, wenn die Nicht­au­tist:in­nen von dieser Beeinträchtigung wissen?

Wie bei anderen unsichtbaren Behinderungen wie psychischen Erkrankungen ist es eine Gratwanderung, weil man in einer Welt voller Vorurteile und Stigmata lebt. Und die Voraussetzung, um sich anderen mitzuteilen, ist, sich selbst zu verstehen. Wenn man jemand sagt, „ich habe Autismus“, hilft das per se nicht viel weiter, weil die andere Person deswegen nicht weiß, was eine Unterstützung sein könnte.

Außer viel zu verbalisieren.

Ja. Aber man muss für sich herausfinden, welche Sachen man ansprechen möchte, weil sie wirklich essenziell sind, deshalb habe ich ja auch das Selbsthilfebuch geschrieben. Ist es Lärm, Lichtbelastung oder der Stress, dass ich mich ständig gezwungen fühle, mit in die Kantine zu gehen, weil man mich sonst für nicht sozial hält. Das kann man kommunizieren. „Ich habe kein Desinteresse an euch, aber ich kann besser zu zweit essen als in der Gruppe.“ An den anderen liegt es dann, das ernst zu nehmen, dass man jemanden ausschließt, wenn man auf solche Wünsche nicht eingeht.

Dabei kennen das viele, dass es ihnen in der Gruppe zu viel ist oder die Kantine zu laut.

Es geht darum, solche Bedürfnisse nicht abzutun und zu sagen: „Ja, ja, mich stört es auch, dass hier im Hintergrund Geräusche sind“, sondern zu verstehen, dass jemand anderes in einem solchen Umfeld nicht essen oder arbeiten kann. Davon abgesehen tut es allen gut, Selbstfürsorge zu betreiben, Bedürfnisse kennenzulernen und einzufordern oder Zeitmanagement zu betreiben. Für Au­tis­t:inn­en ist es aber in viel größerem Maße relevant, weil sie sonst jeden Abend hinter der Wohnungstür in einem Mini-Burn-out zusammenbrechen. Das ist wortwörtlich gemeint. Für Au­tis­t:in­nen gehen oft 95 Prozent ihrer Energie für ihre Arbeit drauf und der Rest für den Weg dorthin und zurück, da fehlt jede Regenerationszeit. Das ist das, was auf Dauer krank macht.

Aber dann geht es auch um die Frage der Arbeitsdauer, oder?

Mehr Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit wären eine große Hilfe – auch für die Gesellschaft. Von allen Gruppen mit psychischen Beeinträchtigungen haben Au­tis­t:in­nen die höchsten Bildungsabschlüsse, aber im Vergleich die niedrigsten Beschäftigungsquoten. Und wenn man ständig unter seinen eigenen Möglichkeiten bleibt, ist das sehr unbefriedigend und kann auch depressiv machen.

Wir haben viel über Nachteile gesprochen. Welche Vorteile sehen Sie für sich?

Viele Au­tis­t:in­nen denken, sie hätten nur Schwächen. Das liegt daran, dass sie ständig mit ihren Schwierigkeiten konfrontiert werden. Aber kein Mensch hat nur Schwächen. Manchmal sind das nur zwei Seiten einer Medaille. Ich mag es, wenn in meinem Lieblingsinteressengebiet alles Wissen einfach so, ohne dass ich es beabsichtige, an mir kleben bleibt. Und das ist dann auch noch erholsam!

Wenn ich nicht gewusst hätte, dass Sie Autistin sind, hätte ich es nach diesem Gespräch nicht vermutet.

Einerseits freut mich das, weil ich nicht auffallen will. Ich habe ja extra Linguistik studiert, weil ich wissen wollte, wie das mit der Kommunikation funktioniert, und strenge mich an, möglichst viel davon richtig hinzubekommen. Nur sieht mir nicht jeder diese Anstrengung an, und sie wird für selbstverständlich genommen.

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2 Kommentare

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  • Gerne gelesen! Vielleicht hilft es dem einen oder anderen Leser, Autisten wertzuschätzen und ihre Besonderheit zu respektieren.

  • "betroffen" is so gut wie ein Synonym für "Makel". Könnweruns da nich n andres Wort ausdenken ? Oder schlicht weglassen ?