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Neues Album mit Jazz und HipHop aus KölnDie Freiheit umarmen

Der Kölner Rapper Retrogott trifft auf die Jazzband Perfektomat. Das Album „Zeit Hat Uns“ ist vielschichtig und hat einen eigenen Groove.

Der Bassist Joscha Oetz und der Rapper Kurt Tallert alias Retrogott Foto: Thomas Schäkel

„Die Nächstenliebe kann lieblos / Und das Einkaufszentrum oder das / Außengelände des Accessment-Centers / Können genauso gut Friedhöfe sein …“ – Dem Reimen von Kurt Tallert zu folgen heißt eine lyrische Kletterpartie im Hochgebirge zu vollziehen. Während man die Gipfel aus Referenzen und philosophischen Gedankenspielen besteigt, drohen immer wieder Diskursabbrüche. Tallert, den man eher unter seinem Rap-Pseudonym Retrogott kennt, gilt schon seit Mitte der nuller Jahre als führender Wortakrobat im hiesigen HipHop-Zirkus.

Statt dicker Hose und sozialer Brennpunkt-Fanfiction schickt er aus dem Kölner Süden bereits seit den Anfangstagen poetisch-philosophische Reimeskapaden der Extraklasse. Schon lange hat der 1986 geborene Künstler, meist in Begleitung seines Instrumentals bastelnden Sparringpartners Hulk Hodn, im deutschsprachigen HipHop einen festen Platz erklommen. Dafür brauchte es weder Alphamännchen noch körperliche Gewalt oder unnötige Beleidigungen auf Pennälerniveau. Das Gegenteil ist der Fall: Habituell spazieren die Lyrics von Retrogott am Uni-Campus umher.

Orts- und Ärawechsel: 1968 steht eine Gruppe Afroamerikaner an den Straßenecken in Harlem und textet die Nachbarschaft als Bürgerrechtsbewegungs-Community-Board in Musikform zu. The Last Poets nannten sich die zwischenzeitlich acht jungen Leute, die inzwischen auf Triogröße geschrumpft sind. Ihr Proto-Rap, die flowende Verkündung von Unrecht und Black Power, brachte sie ins Plattenregal – aber ebenso auf die Observationslisten von FBI und CIA. Darüber hinaus inspirierten die Last Poets etliche Generationen an HipHop-Heads, über Umwege dann auch die hiesigen.

Das wird auf „Zeit hat uns“, dem Album, das Retrogott mit der Gruppe Perfektomat nun realisiert hat, mehr als offensichtlich. Bei den ­Poets gab den Takt einst die Trommel der Beat-Literatur vor; bei Perfektomat geschieht das durch Frontmann Joscha Oetz.

Das Album

Perfektomat und der Retrogott: „Zeit Hat Uns“ (ENTBS/Rough Trade/GoodToGo)

Oetz ist Teil der Kölner Jazz- und Improvisationsszene, die über die letzten 30 Jahre sich vor allen Dingen durch ihre Nähe zu Avantgarde- und Freejazzformen ausgezeichnet hat. Der 1971 geborene Kontrabassist spielt derweil nicht nur in verschiedenen Konstellationen, sondern lehrt den Jazz auch: als künstlerischer Leiter der Offenen Jazz Haus Schule, bezüglich Musikvermittlung Vorbild in Köln.

Ungewohnt swingendes Metrum

Die musikalischen Vorbilder für das Projekt sind zahlreich. Tallert und Oetz kommen mit ihrer Aufzählung kaum hinterher: „Miles Davis, Steve Coleman, Gil Scott-Heron, Ornette Coleman …“ Immer Jazz und HipHop zugleich – aber das Beste aus beiden Welten?

Jedenfalls sind hochkomplexe, assoziativ entstandene Philosophieexperimente mit Bezügen zur späten Beatszene zu hören. Ebenso zur politischen Lyrik, zu den Ursprüngen von Rap sowieso. So hört man auf Tracks wie dem kritischen Anti-Rechts-der-Mitte-Song „Nationalkulturalismus“ nicht einfach HipHop-Lyrics, sondern eher Sprechgesang vom Rapper Retrogott.

Das musikalische Grundgerüst liefert derweil nicht nur Oetz am Bass, sondern auch der Rest der Band Perfektomat. Besonders toll: Laura Robles. Die Peruanerin gibt mit ihrer Percussion aus Cajon und Congas ein bisweilen ungewohnt swingendes Metrum vor; eine Begebenheit, an die sich Tallert erst gewöhnen musste: Statt Viervierteltakt gibt es afro-peruanische Synkopen.

Dazu immer wird immer wieder ausgeschwärmt hin zu Afro-Beats und High-Life, meistens durch Gitarren oder Saxofon ins Spiel gebracht. Afrika, Südamerika, Harlem, Köln: Oetz bringt für dieses vielschichtige und multi­dimensionale Konstrukt einen längst vergessenen Begriff aus der Jazz-Geschichte ins Spiel. Die einst vom Freejazz-Vordenker Ornette Coleman eingeführte Vokabel „harmolodic“ bezeichnet eben eine Spielweise, die sich nicht mehr an Genregrenzen abarbeitet, sondern die Freiheit umarmt.

Viele Facetten, bisweilen etwas zu verkopft, nie unterkomplex und trotzdem groovy. Ob das nun eher etwas für HipHopper oder doch für Jazzer ist, kann uns folglich egal sein.

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1 Kommentar

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  • Mal reingehört. Hip Hop nicht mal im Ansatz rausgehört. Das ist Spoken Word aber kein Rap oder Hip Hop. Wer auf sowas steht sollte sich mal Archie Shepp, Raw Poetic & Damu the Fudgemunk- "Ocean Bridges" anhören. Das hat Flow. Aus Deutschland gefällt mir Noah Fürbringer "Monnwalker" sehr gut.