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Geld ausgeben und schlechtes GewissenDer innere Kampf

Bei der Urlaubsplanung plagt unseren Autor ein schlechtes Gewissen: Lebt er über seinen Verhältnissen? Oder ist das die Verinnerlichung der Klassenherrschaft?

Erst die Tischdecke vollgesaut und dann noch das Gewissen Foto: imago

S chlechtes Gewissen ist hartnäckig wie Kerzenwachs auf Textilien. Das weiß ich, weil ich mal meine Lieblingsfußballmütze mit Kerzenwachs vollgesaut habe. Die Wachsklumpen musste ich mühsam mit Bügeleisen und Löschpapier entfernen. Die Mütze wurde aber nicht mehr wie vorher, die Flecken sind noch erkennbar. Bei schlechtem Gewissen ist es auch so: Wenn man sich einmal damit vollgesaut hat, wird man es nicht mehr los, auch wenn man irgendwann weiß, dass es keinen Grund für das schlechte Gewissen gibt.

Das schlechte Gewissen ist aber nicht immer ein irrationales, weil grundloses, deshalb unnützes und somit lästiges Gefühl. Es hat durchaus wichtige moralische und gesellschaftliche Funktionen. Es ist sogar eine Voraussetzung für das Zusammenleben: Wie soll eine Gesellschaft funktionieren, wenn Fehlverhalten nicht von jenen als solches erkannt wird, die sich fehl verhalten? Der Psychoanalytiker Sigmund Freud hat das Gewissen in der psychischen Instanz des Über-Ich verortet, von wo aus es Zivilisation ermöglicht. Ohne dessen disziplinierende Kraft gäbe es nur grenzenloses Begehren (Es), und die Leute würden sich wohl die Köpfe einschlagen, fände ihr Begehren nicht sofortige Befriedigung.

Dieses Gewissen agiert aber nicht ausschließlich im Dienste der Vernunft und der positiven Seiten der Zivilisation, von denen es auch ausreichend negative gibt. Das Über-Ich ist bei Freud das Ergebnis der Verinnerlichung von elterlicher Autorität. Mit dieser internalisiert der werdende Mensch auch gesellschaftliche Normen und Herrschaft. Wenn ich ein schlechtes Gewissen habe, das sich nach kritischer Betrachtung als irrational, weil grundlos, deshalb unnütz und lästig herausstellt, dann muss ich also nach dessen Quelle fragen.

Der innere Kampf endet nie

Ich trete demnächst eine Reise an, die mich für ein paar Wochen auf einen anderen Kontinent führt, mehrere Wochen dauern wird und deshalb ein bisschen was kostet – weshalb ich gerade ein schlechtes Gewissen habe. Dieses schlechte Gewissen plagt mich jedes Mal, wenn ich für etwas mehr Geld ausgebe, als es in meiner Familie üblich war, sei es für Klamotten, Bücher, Restaurant- und Kneipenbesuche. Am lästigsten wird es aber immer dann, wenn ich reise um des Reisens willen und nicht, weil ich Verwandte in der alten Heimat besuche.

Ein Teil von mir sagt dann: Das Geld für die Reise könnte man doch anders investieren. Überhaupt solltest du das Geld lieber sparen. Und sowieso: Du solltest nicht über deine Verhältnisse leben. Jetzt sag die blöde Reise endlich ab! Ein anderer Teil, der kein Bock mehr auf immer die gleichen Vorwürfe hat, wehrt sich: Halt dein Maul, Junge! Du weißt doch: Dein schlechtes Gewissen ist die Verinnerlichung der Herrschaft der einen Klasse über die andere. Du fährst und genießt die Reise! Keine der beiden Seiten kann diese Schlägerei in mir aber abschließend für sich entscheiden. Und so wird dieser Kampf wohl bis zum Ende bleiben. So wie die Flecken auf meiner Fußballmütze.

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Volkan Agar
Redakteur taz2
Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.
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