Die Kunst der Woche: Fantastische Straße
Hendrik Krawen verzweigt Straßen und Buchstaben bei Kewenig. „Drängende Gegenwart“ beim European Month of Photography zeigt überlegte Fotografie.
W er etwas Schönes anzubieten hat, der findet nach Corona- und inmitten von Internet- und Onlinehandelszeiten in Charlottenburg doch einige leerstehende, schmale Ladenlokale, bestens dazu geeignet, das Angebot höchst attraktiv zum Verkauf zu stellen. Die Galerie Kewenig hat sich eines der vielen leerstehenden, Ladenlokale in Charlottenburg als „pied-à-terre“ gesichert.
In den schmalen Räumlichkeiten kommt nun Hendrik Krawens Ausstellung „À vendre“ attraktiv zum Erscheinen. Der Titel der Schau bezieht sich auf das im Schaufenster hängende Schild, mit dem einst der Verkauf einer Immobilie angezeigt wurde. Das in der Wallonie gefundene Schild inszeniert Krawen als objet trouvé, das mit seiner Typografie und der zeitlosen Aktualität des Themas vom urbanen Werben und Annoncieren auch aus seiner Hand stammen könnte.
Auf Schönste vereinen sich Typografie und Stadt, die – wie wir Dank der Street Photography wissen – immer schon ein zweieiiges Zwillingspaar waren, im Großformat „Imaginary Places III“ (2023). Auf der Grundlage von Anzeigenseiten chinesischer Zeitungen, bei denen es sich in der Mehrzahl um Immobilienanzeigen handelt, collagiert Krawen mit blauen Papierstreifen eine Straßenkarte mit einem Hell-Dunkel-Platz, auf den die Fantastische Straße mündet. Der Stempeldruck, der zuerst als Friedrichstraße gelesen wurde, heißt tatsächlich aber Friedliche Straße. In dieser Stadt möchte ich leben.
Wie immer arbeitet Hendrik Krawen mit größter Genauigkeit, setzt hier das Straßennetz und dort, etwa in „kurz vor Nacht“ (2012), das Architekturdetail und die Schrift in minutiöser Sorgfalt auf den Malgrund. Er selbst sagt, sein Vorgehen habe etwas von Zeichnen mit dem Pinsel. Ich würde „kurz vor Nacht“ in Los Angeles lokalisieren, aufgrund des rostigen backsteinbraunen Simses der Dachkante, auf dem das Neonzeichen „Eden“ thront. In das monochrome Hellbraun des Himmels muss sich neben dem gelben Riss noch ein Tick Rosa eingemischt haben, denn der Eindruck eines noch frühen zwar, aber doch schon Abendlichts ist nicht zu leugnen.
Aber was genau definiere ich als Abendlicht? Wie sehe ich die Welt kurz vor der Nacht? Krawens Kunst fordert in ihrer asketischen Präzision diese Reflexionen heraus, denn sie zeigt keine konkrete Wirklichkeit, so sehr sie mit fotografischem Dokumentarismus kokettiert. Spannend, wie ich auf „789436 Vers. III“ (1999/2022) meinen ganz eigenen Reim finden muss, auf die Buchstaben, wie sie durch den Bildraum fliegen, sich drehen, verhaken; und darauf, dass sie auf mich altmodisch, aber auch sehr französisch wirken, warum auch immer.
Schulen der Fotografie
Vielleicht ist es für die Fotografie von Vorteil, dass es die klassische Fotoreportage und die entsprechenden Magazine, wie wir sie noch aus den 1970er und 1980er Jahren kennen, nicht mehr gibt. So viel Pathos, so viele arme Opfer, denen endlich eine Stimme verliehen wird; gut gemeint, aber viel zu paternalistisch. Junge Fotografinnen sehen sich heute jedenfalls herausgefordert, einigen Einfallsreichtum zu entwickeln, um den Anliegen derjenigen, die nicht für sich selbst sprechen können, mit dem Medium der Fotografie Ausdruck zu geben.
[https://kewenig.com/]Hendrik Krawen: À vendre, Kewenig pied-à-terre, Do.–Sa. 11–18 Uhr, bis 15. April, Bleibtreustr. 41/Eingang Mommsenstraße
Drängende Gegenwart, EMOP Special C/O, Mo.–Fr. 14–19 Uhr, Sa–So 14–18 Uhr, bis 26. März, Leipziger Str. 54
Wie es etwa Phuong Hoang von der University of Europe for Applied Science zeigt, die den Kindesmissbrauch als langanhaltendes Problem der vietnamesischen Gesellschaft in den Fokus nimmt. Eine komplexe Rauminstallation liefert den Rahmen für die Präsentation von Bildern, Objekten, Texten und Videos, in denen ihre Recherche zu den Geschichten misshandelter Babys und Kleinkinder zusammenkommt, wie sie in den vietnamesischen Medien in den letzten 17 Jahren berichtet wurden. Statt Mitleid will die junge Fotografin Bereitschaft zum Handeln provozieren und ganz konkret zur Gewaltprävention in den Gemeinden beitragen.
„Baby’s-Breath“ ist einer von insgesamt 28 durchweg sehenswerten Beiträgen zu „Drängende Gegenwart“, einer im Rahmen des European Month of Photography entwickelten Gemeinschaftsausstellung von Absolventen der fotografischen Ausbildungseinrichtungen in Berlin und Potsdam.
Neben dem Lette Verein, der Fachhochschule Potsdam, der University of Europe for Applied Sciences, der Hochschule für Wirtschaft und Technik HTW Berlin, der International Photography School Berlin und der Ostkreuzschule für Fotografie ist als Gast auch die Schule für künstlerische Photographie Friedl Kubelka aus Wien vertreten.
Wie der Titel „Drängende Gegenwart“ schon andeutet, beschäftigen sich die jungen Fotografen und Fotografinnen mit den gegenwärtig sich häufenden Krisen, sei es der Krieg in der Ukraine, Covid und weitere anhaltende Pandemien, die Klimaerwärmung oder die Attacken auf demokratische Regelwerke und Institutionen.
Der taz plan erscheint auf taz.de/tazplan und immer Mittwochs und Freitags in der Printausgabe der taz.
Sowohl fotografisch als auch thematisch zeigt „Drängende Gegenwart“ durchweg interessante und sehenswerte, bisweilen wirklich herausragende Beiträge. Und dabei ist auch manches zufällig entstandene, kongeniale Zusammenspiel zu entdecken. Etwa Michael Langes fotografische Untersuchung „Sand. The Transformation of Berlin“ und Lourens Samuels „Sand“.
Während der Absolvent der International Photography School den Sand in den Berliner Baugruben aufspürt, in der kurzen Zeit des frei liegenden Bauplatzes, nach dem Aushub oder dem Abriss und vor dem Neubau, interessiert sich der Absolvent des Lette Vereins für die knappe Ressource Sand. Eine Wandtapete zeigt den Burj Khalifa, den in den Sand Dubais eingelassenen höchsten Wolkenkratzer der Welt, der aus importiertem australischem Sand gebaut wurde, wobei der Stahl, der den Beton verstärkt, zum Teil aus dem abgerissenen Berliner Palast der Republik stammt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!