Postkoloniales Berlin: Erinnern ist wie ein Tanz
Wie kann ein dekoloniales Erinnerungskonzept für Berlin aussehen? Die Zivilgesellschaft berät seit Monaten. Nun wurden erste Ergebnisse vorgestellt.
Auch in der weißen Mehrheitsgesellschaft setzt sich mehr und mehr das Bewusstsein durch, dass der Kolonialismus ein zutiefst rassistisches Unrechtssystem war, dessen Wirkungen bis heute spürbar sind. Aber was machen wir dann mit unserer Geschichte – und wer ist eigentlich „wir“? An welche Menschen und Ereignisse wollen wir uns wie erinnern, auch um daraus für die Zukunft zu lernen? Kurz: Wie kann ein dekoloniales Erinnerungskonzept für Berlin aussehen?
All diese Fragen zu klären ist seit vier Jahren politisches Programm. „Berlin übernimmt Verantwortung für seine koloniale Vergangenheit“, beschloss das Abgeordnetenhaus 2019 – und beauftragte den Senat, ein gesamtstädtisches Aufarbeitungs- und Erinnerungskonzept zu erarbeiten. Und zwar mithilfe jener kleinen Zivilgesellschaft aus vor allem afro- und asiadiasporischen Organisationen, die seit über 30 Jahren den Kolonialismus und seine Spuren in der Stadt hinterfragen.
Seit gut sieben Monaten sind diese Gruppen – darunter Adefra, Afrikarat, Decolonize Berlin e.V., Korientation – inzwischen am Werk, haben in fünf Arbeitsgruppen bestimmte Aspekte des Themas genauer beleuchtet. Bei einer Veranstaltung Anfang März in der Akademie der Künste am Parier Platz wurden erste Ergebnisse präsentiert. Die lassen sich grob so zusammenfassen: Noch sind viele Fragen offen, bis zu einem politisch umsetzbaren Erinnerungskonzept ist es noch ein weiter Weg.
Ein offenes Konzept
Oder wird es am Ende womöglich gar kein „fertiges“ Konzept geben – weil Erinnerung niemals „fertig“ ist und fixiert werden kann? Diese Frage schien viele Diskutant*innen umzutreiben. Niemand wisse, was genau ein Erinnerungskonzept ist, sagte Renée Eloundou, Leiterin der vom Senat eingesetzten Koordinierungsstelle Aufarbeitungskonzept.
Eloundou leitete die erste AG, die sich mit der Frage beschäftigte: Was ist ein Erinnerungskonzept zum Thema Kolonialismus? „Es gibt keine Formel, die man fertig entwickelt. Aber wir können festlegen, was uns wichtig ist“, sagte sie. Später ergänzte Fogha Mc Refem, der in der Arbeitsgruppe 4 zur Frage arbeitete, welche Erwartungen an das Berliner Erinnerungskonzept es in den ehemals deutschen Kolonien gibt: Vielleicht müssten wir versuchen, Erinnerung als eine „Praxis wie einen Tanz“ zu entwickeln. „Erinnerung ist offen. Vielleicht brauchen wir keine Antwort, sondern Offenheit.“
Eine Frage, die ebenfalls viel diskutiert wurde: Wer darf überhaupt am Tisch sitzen und mitreden? Dies war vor allem Thema in Arbeitsgruppe 2, deren Ergebnisse Sacks Stuurman, Vorstandsmitglied im Afrikarat, vorstellte. „Wir haben uns schwergetan mit der Frage“, erklärte er. „Wir kommen nicht umhin, jemanden auszuschließen, wir müssen selektiv sein, aber wie? Das wird eine heiße Diskussion werden.“
Zudem wolle man auch bestimmte Meinungen, „die nur die herrschende Auffassung weiterspinnen wollen“, nicht zulassen. Auf taz-Nachfrage präzisierte Stuurman später: Er werbe dafür, im Diskussionsprozess keine Position zuzulassen, „die das Projekt Dekolonisierung als solches ablehnt“. Sie zu erkennen sei jedoch nicht leicht, denn oft seien solche Positionen nur „unterschwellig“ spürbar. „Das muss man ausloten.“
Auch in anderen Arbeitsgruppen war die Frage „Wer wird gehört, wer (noch) nicht?“ zentral: Wie kann man etwa dafür sorgen, dass auch Angehörige aus den ehemaligen Kolonien beteiligt sind – sowohl konzeptionell als auch physisch durch Visa und Reisemöglichkeit? Dass das Ganze nicht nur ein Konzept für Berliner*innen werden soll, darin bestand Einigkeit. Aber wie kann man bislang vernachlässigte Perspektiven, etwa aus dem asiatischen Raum – Stichwort „deutsche Südsee“ und China – einbeziehen? Die Dokumente, die man in Berlin dazu finde, zeigten vorwiegend die „deutsche, weiße Perspektive“, sagte Kimiko Suda von der AG 5, die sich mit der Globalgeschichte des Kolonialismus beschäftigte. „Wir müssten in andere Länder reisen.“ Aber ob für solche Forschungsvorhaben Geld vorhanden sei?
Alles in allem, bilanzierte Ibou Diop, Leiter des Projekts Erinnerungskonzept, sei er „überwältigt von der Präzision und Sensibilität der Antworten“. Und seine Rede vor den gut 150 Teilnehmer*innen sollte wohl bereits als Teil des Konzepts gelesen werden, das der Literaturwissenschaftler in naher Zukunft aus dem Input der Zivilgesellschaft entwickeln wird.
Diop stellte fest: Mit der Unterdrückung bestimmter Erinnerungen und Perspektiven auf deutsche Geschichte sei es vorbei. „Postkoloniales Erinnern heißt, die unerzählten Geschichten, die von der Mehrheitsgesellschaft erfolgreich marginalisierten Geschichten, die Geschichte des Widerstands gegen Kolonialismus und Unterdrückung, als Teil der nationalen Geschichte anzuerkennen und in einem europäischen Zusammenhang zu sehen“, so Diop.
Allerdings sei die Kolonialgeschichte noch nicht vollständig Geschichte, „sondern setzt sich in den Politiken des Neoliberalismus und Neokolonialismus fort“. Dies erkläre die Ablehnung, den Widerstand von Teilen der weißen Mehrheitsgesellschaft gegen ein dekoloniales Erinnerungskonzept. „Die Erinnerungspolitik, an der wir hier gemeinsam arbeiten“, werde dieses Machtgefüge nicht von einem Tag auf den anderen abschaffen – aber sie sollte dazu beitragen, „eine Zukunft zu entwickeln, die von allen geprägt ist“, zeigte er sich optimistisch.
In Diops Vision hätten alle etwas von dieser neuen Erinnerungskultur – sowohl die Nachfahren der Kolonisierten als auch die der Kolonisateure. „Postkoloniale Erinnerung transzendiert Zugehörigkeiten.“ Noch sei es aber nicht so weit. Und es sei die Aufgabe der Regierenden unserer Zeit, jene zusammenzubringen, „die gemeinsam diese Welt gestalten müssen“. Dies sei keine Frage des Wollens, sondern des Müssens, so Diop. „Wir müssen diese Welt gemeinsam (um)gestalten. Oder sie wird nicht bleiben.“
Was wird mit Schwarz-Rot?
Herauskommen sollte dabei ein Blick auf Geschichte, der sich nicht mehr „für eine positive Identifikation mit Deutschland eignet“, zitiert Diop den Publizisten Max Czollek – sondern die „Untröstlichkeit“ über das Geschehene fokussiert. „Die gemeinsame Untröstlichkeit darüber, dass die Geschichte so passiert ist, wie sie eben passierte, erlaubt, die Vergangenheit so zu erinnern, dass alle daran teilhaben können.“
Ob sich ein solches Erinnerungskonzept nach dem angekündigten Regierungswechsel noch realisieren lässt, muss sich zeigen. Zweifelsohne ist die Idee der Untröstlichkeit mit konservativen Vorstellungen von „Nationalstolz“ kaum übereinzubringen. Und so mahnte der scheidende Kultursenator Klaus Lederer (Linke) die Anwesenden in der Akademie nicht ganz unberechtigt, „darauf zu achten, dass der Wechsel im Roten Rathaus nicht zur Rolle rückwärts wird“.
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