Kolonialismus und Aufarbeitung: „Erinnerung muss solidarisch sein“

Das Projekt „Kolonialismus erinnern“ präsentiert sein Erinnerungskonzept für Berlin. Kultursenator Joe Chialo nennt es nur „eine solide Grundlage“.

Das HAus der Kulturen der Welt

Passender Ort: Im Haus der Kulturen der Welt an der Spree wird das Erinnerungskonzept Kolonialismus vorgestellt Foto: Jens Kalaene/dpa

BERLIN taz | Im Jahr 2085 wird die Hegemonie der Weißen überwunden sein. Mit ihrer Vision von einer postkolonialen, postrassistischen Welt, in der die Menschen einander zuhören und die Vielfalt der Erinnerungen anerkennen, vor allem auch die Geschichten jener, die durch koloniale Gewalt über Jahrhunderte unterdrückt wurden, verzauberte die Schriftstellerin Sharon Dodua Otoo am Donnerstag das Publikum im Haus der Kulturen der Welt.

In ihrer Rede aus der Zukunft blickte sie zurück auf das an diesem Wochende stattfindendes dreitägiges Event „Kolonialismus erinnern. Präsentation des Gesamtstädtischen Erinnerungskonzepts für das Land Berlin“ – und erklärte es als „historisch“. Es sei der Beginn einer Entwicklung gewesen, so Otoo, hin zu einer Welt, die damals (also: heute) kaum vorstellbar gewesen sei. Eine Welt jenseits nationaler und kultureller Schranken, eine Welt „der Multilingualität im Sinne von Anerkennung der Vielfalt von Sprachen – und dass manchmal auch Schweigen gut ist“.

Tatsächlich sei das, was gerade in Berlin passiere, weltweit wohl „einzigartig“, erklärte der Literaturwissenschaftler Ibou Diop, der die Erarbeitung dieses Erinnerungskonzepts in den vergangenen zwei Jahren koordiniert hat. „Zivilgesellschaften aus Berlin und anderen Ländern, die von Kolonialismus betroffen sind, haben sich Gedanken gemacht, wie man sich an die Entmenschlichung erinnern kann.

Das ist ein Vorschlag“, sagte Diop sichtlich aufgewühlt. Seine Erregung galt in diesem Moment allerdings weniger dem großen Moment selbst, zu dem Dutzende Mitstreiter, darunter viele Wissenschaftler, Künstler und Intellektuelle aus afrikanischen und asiatischen Ländern, sowie zahlreiche Politiker und Interessierte im HKW zusammengekommen waren.

Vielmehr versuchte der gebürtige Senegalese und Wahl-Berliner mit seinem ersten Redebeitrag die Störer zu beruhigen, die sich – wie so oft in diesen Tagen – in Sachen Palästina-Solidarität Gehör zu verschaffen suchten. Wiederholt unterbrachen sie mit „Stopp the Genocide“-Rufen und erregt verlesenen Statements die Reden der Staatsministerin für Kultur Claudia Roth (Grüne) sowie von Kultursenator Joe Chialo (CDU).

„Lange und hart erkämpft“

Zwar gab es im Publikum vereinzelte Sympathie-Bekundungen für die Intervention, ein Großteil der Anwesenden applaudierte jedoch Moderatorin Miriam Camara, die den Palästina-Aktivisten erklärte, hier und heute gehöre dieser Raum der afrodiasporischen Community. „Das haben wir uns lange und hart erkämpft.“

An die lange Geschichte des Schwarzen Kampfs um Anerkennung erinnerte auch der Hausherr des HKW, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, in seiner Eröffnungsrede. Der international bekannte Kurator zog einen weiten Bogen von den Anfängen der Kolonisation der afrikanischen „Goldküste“ im 15. Jahrhundert bis heute. „Als ich in den späten 90er Jahren nach Deutschland kam, war ich schockiert, dass die meisten Menschen hier nichts wissen über die Berliner Konferenz und die Geschichte der Kolonisation“, erklärte er.

Zumal er selbst, aufgewachsen im Kamerun der 1980er Jahre, in der Schule „gedrillt“ worden sei mit der Erinnerung an dieses Ereignis von 1884/85, wo in der Wilhelmstraße 92 unter Leitung von Reichskanzler Bismarck die europäischen Regierungen Afrika unter sich aufteilten. Dieses Ereignis habe Wirkungen bis ins Heute, betonte Ndikung, es habe alle Gesellschaften – europäische und afrikanische – bis ins Mark verändert. Und doch stehe es weder in den Schulbüchern noch sei es Teil der kollektiven Erinnerungen hierzulande.

Auch Roth betonte in ihrer Rede, „selbstverständlich“ gehöre die Berlin-Konferenz in die Schulbücher und „in unsere Erinnerungen“ – aber bislang gebe es in punkto Kolonialismus viele „weiße Flecken in unserer Erinnerungskultur“. Sie gratuliere daher dem Land Berlin, dass es sich auf den wichtigen Weg gemacht habe, dies zu ändern.t

Ein Lern- und Erinnerungsort

Auch die Bundesregierung, erinnerte Roth, habe im Koalitionsvertrag die Konzipierung eines „Lern- und Erinnerungsorts Kolonialismus in Deutschland“ festgeschrieben. Wie der aussehen und was er enthalten solle, „dazu gibt es zahllose Ideen und die unterschiedlichsten Meinungen und Perspektiven“, so Roth. Man strebe eine deutschlandweite „Bestandaufnahme der zivilgesellschaftlichen Positionen“ hierzu an – die Ergebnisse dieser Tagung würden darin einfließen, versprach die Grünen-Politikerin.

Die Ergebnisse der Arbeit der letzten zwei Jahre, das Gesamtstädtische Erinnerungskonzept, wurde den Teilnehmern der Konferenz am Donnerstag zunächst in Schriftform präsentiert. Bei Exkursionen zu historischen Orten, Workshops und Diskussionen sollen die wichtigsten Punkte bis Samstag vertieft und mit Leben gefüllt werden.

Das Konzept erinnert zunächst an den „politischen Wendepunkt“ 2019, als das Berliner Abgeordnetenhaus beschloss, die „Leerstelle in der öffentlich geförderten Erinnerungskultur“ Deutschlands zu füllen. Dafür gab die Politik unter der Überschrift „Berlin übernimmt Verantwortung für seine koloniale Vergangenheit“ die Entwicklung eines gesamtstädtischen Aufarbeitungs- und Erinnerungskonzepts in Auftrag.

Dieses sieht im Kern vor, neue Lern- und Erinnerungsorte sowie „Stadtmarkierungen und Erinnerungszeichen“ zu schaffen, die Wissen über die deutsche Kolonialgeschichte vermitteln und „Emphatie mit den Opfern der Kolonialverbrechen“ fördern sollen. Diese Erinnerungsorte müssten so gestaltet sein, dass sie vielfältige – auch einfache – Zugänge für ein diverses Publikum ermöglichen, lautet eine der Forderungen. Die Orte müssten multimedial gestaltet sein, Raum für Austausch und Diskussion ermöglichen, internationale Zusammenarbeit fördern, alternative Erinnerungen und Gedenkformen zulassen, auch künstlerische und spirituelle, um eine „lebendige und angemessene Erinnerungs- und Gedenkpraxis“ zu schaffen.

Konkret fordert das Konzept einen zentralen Bildungs- und Erinnerungsort an der Adresse der Berlin-Konferenz in der Wilhelmstraße 92. Zudem sollten weitere wichtige historische Orte „neugestaltet“ werden, etwa das Afrikanische Viertel in Wedding, der ehemalige Standort des Deutschen Kolonialmuseums am Lehrter Bahnhof, das Bismarck-Denkmal am Großen Stern, der Zoologische und der Botanische Garten, das ehemalige Völkerkundemuseum sowie das Areal rund um den „Karpfenteich“ im Treptower Park, wo 1896 die so genannte „Völkerschau“ der ersten Deutschen Kolonialausstellung stattfand. Institutionen wie Zoo, Ethnologisches und Botanisches Museum müssten sich kritisch mit ihrer kolonialen Vergangenheit auseinandersetzen.

Zudem wird im Konzept gefordert, das dezentrale Netz an historischen Stadtmarkierungen – etwa Stolpersteine für Schwarze Menschen, Gedenktafeln, Denkzeichen –, das in den letzten Jahren vor allem auf Initiative der Zivilgesellschaft entstanden sei, „konsequent weiter auszubauen“. Und es müssten internationale Perspektiven aus jenen Ländern, „die Teil der spezifischen kolonialen Beziehungsgeschichte mit Deutschland sind“, verstärkt einbezogen werden. Denkbar seien dafür weitere Straßenumbenennungen, Infotafeln, die afrikanische Protagonisten würdigen, oder die Einführung eines Gedenktags für den Genozid an den Herero und Nama.

Kultursenator Chialo, dem das Konzept vor Beginn der Tagung am Donnerstag Mittag übergeben worden war, bedankte sich bei Diop und den beteiligten Gruppen – Adefra, Korientation, Afrika-Rat, Decolonize Berlin, Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt und dem Korea-Verband – für ihre Arbeit. Sie sei eine „solide Grundlage für das noch zu erarbeitende Konzept“.

Implizit abgewertet

Implizit wertete Chialo damit die Arbeit des Projekts allerdings ab, schließlich war die Veranstaltung selbst als Präsentation eines fertigen Konzepts beschrieben. Immerhin griff der Kultursenator zwei Punkte desselben als auch für ihn wesentlich auf: die Kombination eines zentralen Lern- und Erinnerungsortes mit einem dezentralen „Stadtmarkierungssystem“. Und er versprach: „Ich habe die Absicht, die Wilhelmstraße 92 langfristig zu sichern.“

Auch er, so Chialo, könne sich diesen Ort „gut als zentralen Erinnerungsort vorstellen“, aber er wolle den Entscheidungen, an denen der Bund beteiligt sei, nicht vorgreifen. Ob darüber hinaus weitere Forderungen aus dem Konzept Wirklichkeit werden, steht allerdings in den Sternen. Chialos Qualifizierung des Konzepts als bloße „Grundlage“ der Diskussion lässt Zweifel angebracht scheinen.

Was bei den Thema insgesamt auf dem Spiel steht, rief Projektleiter Diop in seiner zweiten – eigentlichen – Rede in Erinnerung. Man komme in „schwierigen Zeiten“ zusammen, sagte er mit Blick auf die anstehenden Landtagswahlen in Ostdetuschland, wo wir „aufatmen werden, wenn die AfD unter 30 Prozent bleibt“. Vor allem für „unsere Communities“ und „alle Marginalisierten“ bedeute dies, dass „die Gedanken von einem Schreckensszenario zum anderen jagen“.

Oder aber die andere Möglichkeit: „dass wir Stärke zeigen, Gestaltungswillen und Widerständigkeit“. Diese Widerständigkeit bedeutet „in den Tagen, die uns bevorstehen und in der Arbeit, die uns hierher geführt hat: gemeinsames Arbeiten für eine andere Erzählung“.

Dabei gehe es darum, so Diop, nicht nur zu erzählen, „wer wir als Gesellschaft sind“, sondern darum, eine Erzählung zu finden, „die zeigt, wer wir sein wollen“. In der gemeinsamen Arbeit an diesem Konzept in den letzten zwei Jahren hätten sie gelernt: „Erinnerung kann solidarisch sein, nein, sie muss solidarisch sein.“

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