piwik no script img

Plüschtiere, Wut und Trauer in der Fankurve

Immer lauter wird in der Türkei der Unmut über den Umgang der Regierung mit dem verheerenden Erdbeben. Am Wochenende entlud sich das in mehreren Fußballstadien

Erst Tausende Plüschtiere als Zeichen der Trauer, dann minutenlanges Ausbuhen der Regierung: das Stadion von Beșiktaș am Wochenende Foto: ap

Von Jürgen Gottschlich

Angesichts der verheerenden Auswirkungen des Jahrhundertbebens im Südosten der Türkei und dem immer deutlicher werdenden Missmanagement der Regierung äußert sich der Unmut großer Teile der Bevölkerung zunehmend deutlicher. Ein wichtiger Indikator für die Stimmung ist das Verhalten bei großen Sportereignissen, einem der letzten Orte, wo sich größere Menschenmengen noch versammeln dürfen. Zuerst am Samstag im Stadion von Fenerbahçe, dem größten Verein in Istanbul auf der asiatischen Seite der Stadt, dann bei dem Spiel des Traditionsvereins Beșiktaș am Sonntag, nutzten die Menschen die Gelegenheit, um lautstark ihre Wut zu artikulieren. Mehr als 60.000 Fans forderten in Fenerbahçe in minutenlangen Sprechchören den Rücktritt der Regierung, in Beșiktaș warfen die Fans zunächst zum Zeichen der Trauer Plüschtiere auf den Rasen, um dann ebenfalls minutenlang die Regierung auszubuhen. Zuletzt hat es so etwas während der so genannten Gezi-Proteste vor zehn Jahren gegeben.

Für weitere Spannungen sorgte am Wochenende eine Enthüllungsgeschichte der oppositionellen Zeitung Cumhuriyet. Darin deckte ein Reporter auf, dass der türkische Rote Halbmond „Kizilay“ in den allerersten Tagen nach dem Beben winterfeste Zelte, die dringend im Erdbebengebiet gebraucht wurden, an die private Hilfsorganisation Ahbap für 2,3 Millionen Euro verkauft hat, statt sie auf schnellstem Weg kostenfrei den Erdbebenopfern zur Verfügung zu stellen. „Ein unglaublicher Skandal“, schrieb Cumhuriyet. Meral Akșener, die Vorsitzende der Oppositionspartei IYI-Parti, forderte den Kizilay-Vorsitzenden zum Rücktritt auf. Demonstrationen zum Hauptsitz von Kizilay in Ankara wurden durch die Polizei verhindert, rund 100 Personen wurden kurzzeitig festgenommen.

Angesichts dieser Ereignisse kommen die AKP-Regierung und Präsident Recep Tayyip Erdoğan immer mehr unter Druck. Erdoğans Versprechen, einen Großteil der Häuser innerhalb eines Jahres wieder aufzubauen, bezeichnet die türkische Architektenkammer TMMOB als reine Propaganda. Sie wirft der Regierung große Mitschuld an den dramatischen Folgen des Erdbebens vor. Von den rund 173.000 zerstörten Gebäuden seien mehr als die Hälfte erst nach 2001 gebaut worden, als die strengeren Sicherheitsauflagen für erdbebensichere Häuser bereits in Kraft waren. Bei all diesen Häusern sind die Vorschriften offenbar missachtet oder bewusst umgangen worden.

Die türkische Architektenkammer sieht eine große Mitschuld der Regierung

Außerdem habe die Regierung sich mitschuldig gemacht, weil sie aus politischen Gründen in Vorwahlzeiten Schwarzbauten mehrmals amnestiert habe. Um diese Mitschuld zu vertuschen, stelle die Regierung jetzt Bauunternehmer und Immobilienspekulanten als die Alleinschuldigen für den gigantischen Pfusch am Bau dar. Justizminister Bozdağ erklärte, es liefen insgesamt 600 Ermittlungsverfahren gegen Personen aus der Baubranche, 184 Personen seien in diesem Zusammenhang bereits festgenommen worden.

Ob diese Aktionen eine Niederlage Erdoğans bei den offenbar nun doch im Mai geplanten Wahlen verhindern können, scheint indes sehr fraglich. Das Ausmaß der Tragödie in der Katastrophenzone ist jetzt, knapp einen Monat nach dem Beben, immer klarer erkennbar. David Beasley, Direktor des Welternährungsprogramms der UNO, besuchte Ende letzter Woche die mit am stärksten zerstörte Stadt Antakya in der Region Hatay. „Die Situation kann man nur als apokalyptisch bezeichnen“, sagte er anschließend. Er forderte die UN-Mitgliedstaaten zu mehr Hilfe auf, gerade jetzt, „wo die öffentliche Aufmerksamkeit nachlasse“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen