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Goldener Bär für französische DokuGute Zeit für Wirklichkeit

Auf der 73. Berlinale gewinnt Nicolas Philibert mit einem Dokumentarfilm über eine psychiatrische Tagesklinik. Bei den Spielfilmen haperte es etwas.

Die einzige dokumentarische Form im Wettbewerb überzeugte: Nicolas Philibert mit Goldenem Bären Foto: Annegret Hilse/Reuters

„Spinnt ihr?“ Mit diesen Worten reagierte der französische Regisseur Nicolas Philibert am Sonnabend, als die Jurypräsidentin der 73. Berlinale, die Schauspielerin Kristen Stewart, den Gewinner des Goldenen Bären verkündete. Der Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“, mit dem der 72 Jahre alte Philibert im Wettbewerb angetreten war, porträtiert die Pariser Tagesklinik Adamant, die in einem Boot auf der Seine untergebracht ist. Menschen mit psychischen Nöten können dort malen, musizieren, über Literatur sprechen oder einfach einen Kaffee trinken.

Auf den ersten Blick ein unscheinbarer Kandidat für den Hauptpreis der Internationalen Filmfestspiele Berlin, doch die einzige dokumentarische Form im Wettbewerb überzeugt nicht allein durch ihre genaue, kommentarlose Beobachtung, sondern auch mit einem Anliegen, das in stillem Ton engagiert vorgebracht wird.

Philibert plädiert mit der Aufmerksamkeit, die er knappe zwei Stunden dem Psychiatrieboot widmet, für einen offeneren Umgang mit „den Verrückten“, statt sich einfach darauf zu verlegen, die Kranken wieder zum Funktionieren zu bringen. Sein „Spinnt ihr?“-Ausruf ließe sich so gesehen auch als leicht kokettes Kompliment an die Jury verstehen.

Nachdem es viel Rätseln darum gegeben hatte, wer dieses Jahr für den Goldenen Bären überhaupt in Frage kommen könnte, war die Entscheidung eine elegante Lösung, um eine andere Schwierigkeit zu umschiffen.

Denn die 18 Spielfilme, die mit „Sur l’Adamant“ um die Bären konkurrierten, fielen in ihrer Mehrheit durch wenig überraschende Arthouse-Routinen auf oder hatten Drehbücher, die entweder nicht ganz trugen oder nicht überzeugend ins audiovisuelle Medium übertragen worden waren. Das Murren der versammelten Kritikerzunft über den Wettbewerb war gegen Ende des Festivals gar zu einem missmutigen Grundbrummen angeschwollen.

Silberner Bär für Christian Petzold

Von den deutschen Filmen bekam mit Christian Petzolds „Roter Himmel“ immerhin der beste hiesige Beitrag den Silbernen Bären Großer Preis der Jury. Seine Sommergeschichte um einen Schriftsteller in der künstlerischen Krise, umgeben von den Folgen der Klimakrise, ist gut geschrieben, gut gespielt und gut inszeniert.

Ob es zugleich einer der stärksten Filme Petzolds ist, bleibt eine Frage, die sich vielleicht nach dem Abebben der Berlinale-Manie mit klarerem Blick beantworten lässt. Für Petzold freuen kann man sich in jedem Fall, hatte es für seinen Berlinale-Beitrag „Transit“ 2018 doch gar keinen und für „Undine“ 2020 ausschließlich für Paula Beer als Darstellerin einen Silbernen Bären gegeben.

Die Entscheidung, den Jurypreis an João Canijos Familienkammerspiel „Mal Viver“ zu vergeben, mag da schon eher verwundern. Im Film des 75 Jahre alten Portugiesen herrscht eine depressive Tristesse, die durch das konzentrierte Spiel des Ensembles, in dem die Hauptfiguren alle Frauen sind, zwar durchaus belebt wird, spätestens beim Finale jedoch zur Geduldsprobe wird. „Mal Viver“ war dabei einer von mehreren Filmen im Wettbewerb, die Familiengeschichten erzählen, wenngleich mit sehr unterschiedlichen Anliegen.

So steht bei der Spanierin Estibaliz Urresola Solaguren in „20.000 especies de abejas“ (20.000 Bienenarten) ein Kind im Mittelpunkt der Handlung, das sich nicht mehr mit seinem Namen und mit dem Umstand, dass es als Junge auf die Welt kam, identifizieren kann.

Der Ratlosigkeit von Cocó, geboren als Aitor, steht die Hilflosigkeit der Familie gegenüber, die wenig Verständnis zeigt. Auch wenn der Film durch den plakativen Umgang mit seinem Thema zu den schwächeren zählte, war die Hauptfigur gleichwohl mit der Schauspieldebütantin Sofía Otero stark besetzt. Die Achtjährige bekam, als jüngste Darstellerin der Geschichte der Berlinale, den Silbernen Bären für eine Hauptrolle. Eine vertretbare Wahl.

Thea Ehre widmet ihren Preis der trans Community

Als beste Nebenrolle zeichnete die Jury die trans Schauspielerin Thea Ehre für ihren Part in Christoph Hochhäuslers „Bis ans Ende der Nacht“ aus. Auch hier war die Entscheidung richtig, rettete Ehre mit ihrem sensiblen Spiel über weite Strecken doch den in seinem Genre-Mix überambitionierten und mit seinem von Plattheiten nicht ganz freien Drehbuch bestenfalls in Teilen gelungenen queeren Thriller. Ihren Preis widmete Ehre der trans Community.

Man könnte eine Reihe weiterer Beispiele für unausgegorene Filme heranziehen, Giacomo Abbruzzeses „Disco Boy“ etwa, der zwar mit Franz Rogowski einen starken Hauptdarsteller bietet und dessen Bilder in ihrer Künstlichkeit stets suggestiv gestaltet sind, bei dem man gegen Ende allerdings den Eindruck hat, dass der Regisseur nicht mehr so recht wusste, was er mit alledem eigentlich erzählen wollte. Die Kamerafrau Hélène Louvart war mit dem Silbernen Bären für eine besondere künstlerische Leistung jedenfalls gut ausgesucht.

Ein bisschen bleibt insgesamt der Eindruck, dass die Spielfilme in diesem Jahrgang zu den schwächeren Beiträgen gehörten, selbst wenn es mit dem leer ausgegangenen „Tótem“ der Mexikanerin Lila Avilés ein eindringliches, dezent humorvolles Familiendrama um Krankheit und Tod gab, das sich als Favorit angeboten hätte.

Es war eine der Ausnahmen unter der Masse von weniger Geglücktem. Aus diesem Anlass gleich eine Krise des Erzählens auszurufen, wäre da wohl allzu dramatisch. Stattdessen kann man vielmehr die Stärke der Dokumentarfilme hervorheben, von denen es auch in anderen Sektionen einige herausragende Beispiele gab.

Familienporträt im ländlichen Mexiko

Ein unaufdringlich einnehmender Film war „El eco“ der Mexikanerin Tatiana Huezo im Parallelwettbewerb Encounters. Ihr Porträt dreier Familien im titelgebenden Dorf im Norden Mexikos nimmt sich Zeit für seine Protagonisten, zeigt Kinder, wie sie Schafe aus Wasserlöchern befreien, aber auch heranwachsende Frauen, die sich überlegen, ob sie zum Militär gehen sollen, um den Dienst an der Waffe abzuleisten. ­Huezo erhielt sowohl den Berlinale Dokumentarfilmpreis als auch den Encounters-Preis für die beste Regie.

„Die Wirklichkeit ist zurück“, hatte der künstlerische Leiter Carlo Chatrian zum Auftakt der Berlinale als Losung ausgegeben. Was auch für aktuelles Zeitgeschehen gilt. Neben den solidarischen Programmschwerpunkten zu Iran und Ukraine gab es, ebenfalls in den Encounters, mit dem italienischen Dokumentarfilm „Le mura di Bergamo“ von Stefano Savona den womöglich besten Film zur Coronapandemie bisher.

Der Regisseur begleitet von Beginn der Pandemie an Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger in Bergamo, filmt sie beim Einsatz in den überfüllten Krankenhäusern, erspart dem Publikum selbst den Abtransport von Leichensäcken nicht, geht dann aber über zu etwas ganz anderem.

Savona beobachtet danach die Helfer der Pandemie, wie sie versuchen, mit den Folgen umzugehen, Angehörigen von Coronatoten in Gesprächen beistehen und sich selbst fragen, was der Notstand in den Kliniken mit den vielen Patienten, für die es keine Rettung gab, für ein Gesundheitswesen und, in erweiterter Perspektive, für eine Gesellschaft bedeutet. Mit Archivmaterialien von den Familien der Angehörigen der Toten ergänzt, bekommt der Film eine zusätzliche Erinnerungsebene.

Auf der Suche nach Klezmer-Musik

Schließlich gab es in den Encounters mit „Adentro mío estoy bailando“ (The Klezmer Project) von Leandro Koch und Paloma Schachmann, der verdient den Preis für den besten Erstlingsfilm erhielt, eine halbfiktionale Suche zweier Argentinier, die sich auf eine Reise durch Osteuropa auf den Spuren der Klezmer-Musik machen.

Obwohl sie in der Ukraine, der Republik Moldau und Rumänien keine Klezmer-Bands finden, begegnen sie vielen Musikern, die in ihrem Spiel an diese Tradition anknüpfen. Neben dem Verschwinden von Klezmer deutet der Film ebenso die Gründe für das Verschwinden des Jiddischen an, wobei er Raum für eigene Fragen lässt.

Fragen lässt auch diese Berlinale offen. Wird sie für das Leitungsduo Mariëtte Rissenbeek und Carlo Chatrian als Erfolg verbucht, über das politische Engagement und die beachtlichen Kartenverkäufe hinaus? Konnten sie jenseits der Begeisterung für das Kino als Ort auch mit dem Programm ihre eigenen Erwartungen erfüllen?

Deutet sich mit ihrer Pressemitteilung von Anfang Januar, laut der sie beide offen lassen, ob sie nach Ende ihres Vertrags im Frühjahr 2024 die Leitung des Festivals fortsetzen wollen, schon eine mögliche Verneinung der Frage an? Und warum lief Ira Sachs’ grandiose Dreiecksgeschichte „Passages“ mit Franz Rogowski, Ben ­Whishaw und Adèle Exarchopoulos eigentlich nicht im Wettbewerb?

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