Kinotipp der Woche: Auf Augenhöhe

Die Sommer Berlinale zeigt noch einmal einige Festivalhighlights, darunter der diesjährige Gewinner des Goldenen Bären, „Sur l'Adamant“.

Ein Mann zeigt auf eine Zeichnung

„Sur l’Adamant“ (R: Nicolas Philibert, Frankreich / Japan 2022) Foto: Grandfilm

Im Februar durchs kalte und unwirtliche Berlin hetzen, auf der Suche nach echten Highlights der Berlinale – kann man machen. Nun im Sommer bei Kaiserwetter ein paar vom Publikum und der Filmkritik bereits beglaubigte Festivalknaller unter freiem Himmel serviert zu bekommen, ist aber auch nicht schlecht.

Vier davon werden vom 6. bis 9. Juli bei der Sommer Berlinale im Freiluftkino Friedrichshain gezeigt. Darunter auch, wie es sich gehört, der diesjährige Gewinner des Goldenen Bären: „Sur l'Adamant“ von Nicolas Philibert.

Der Dokumentarfilm stellt das Konzept einer ungewöhnlichen psychiatrischen Einrichtung in Paris vor, das der „Adamant“, einer Tagesklinik auf einem ausgemusterten Frachtschiff auf der Seine. Bewohner der ersten vier Arrondissements der französischen Hauptstadt können freiwillig vorbeikommen, um hier mitten auf dem Wasser ihren Tag zu verbringen.

Alle haben sie unterschiedliche Probleme, aber sie sind keine Idioten und zumindest auf diesem Schiff werden sie auch nicht als solche behandelt. Man kommt vielmehr Personen näher, die, wenn man ihnen zuhört, sich als ungemein gebildet und als teilweise echte Künstler und Künstlerinnen erweisen.

Und auf der „Adamant“ wird ihnen zugehört. Da wird gemalt und gezeichnet und danach sagt ein Betreuer nicht einfach bloß: „Das hast Du aber schön gemacht“. Sondern vor der ganzen Gruppe wird das Kunstwerk ausgestellt und besprochen, als befände man sich auf der Kunsthochschule. Es wird ernst genommen, so wie auch sein Erschaffer.

Manche Theorien und Vorstellungen von einem wie Frederic etwa, der sich, wenn man das richtig versteht, für eine Art Reinkarnation von Vincent van Gogh hält, mögen recht speziell klingen. Was aber nicht heißt, dass er, der Cineast und Popmusikfan, nicht doch ziemlich viel Ahnung von Filmen und dem Leben von Jim Morrison hat. Und wenn er sich dann vor sein Keyboard setzt und den Chansonier gibt, ist man sowieso ganz gebannt.

Man hat überhaupt das Gefühl, als würden auf der „Adamant“ vor allem echte Art-Brut-Künstler und Künstlerinnen ein und ausgehen, also Artisten, die ein Stück weit in ihrer eigenen Welt leben mögen, aber vielleicht auch gerade deswegen zu faszinieren wissen. Und von besagtem van Gogh heißt es ja auch, er sei ein Genie, bestimmt aber auch ein wenig „verrückt“ gewesen.

Man bekommt Geschichten von schweren Schicksalen zu hören, etwa davon, wie sie plötzlich auftauchten, die Stimmen im Kopf, und dann einfach nicht mehr verschwinden wollten. Und einem ist alles in seiner Umwelt immer zu laut, weswegen er einen Magnet an einer Kette um den Hals hängen hat, der den ganzen Krach um ihn herum dämpft, wie er fest glaubt. Aber gut, wenn's hilft. Und dann packt auch schon wieder einer seine E-Gitarre aus und spielt darauf wie ein Gott, womit man jetzt auch nicht unbedingt gerechnet hätte.

Die Kreativität der Patienten und Patientinnen wird in geradezu beeindruckender Weise gefördert auf der „Adamant“. Im Regal stehen nicht bloß ein paar DVDs herum, sondern das Schiff verfügt über eine ganze Bibliothek mit Filmen. Und jährlich wird ein Filmfestival veranstaltet, bei dem ausgesuchte Klassiker aufgeführt werden und die Besucher des Schiffs in diese einführen.

Patienten und Patientinnen mit psychischen Problemen wie „normale“ Menschen und auf Augenhöhe behandeln, darum geht es auf der „Adamant“. Und darum geht es auch dem Regisseur Nicolas Philibert.

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Lars Penning, geboren 1962. Studium der Publizistik, Theaterwissenschaft und der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der FU Berlin. Freier Filmjournalist. Buchveröffentlichungen: Cameron Diaz (2001) und Julia Roberts (2003). Zahlreiche filmhistorische und –analytische Beiträge für verschiedene Publikationen. Lebt in Berlin.

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