Komponist Ryūichi Sakamoto: Blick auf den nahenden Tod
Ryūichi Sakamoto ist gestorben. Aus diesem Anlass unsere Besprechung seines letzten Albums, auf dem er sich noch gegen seine Krankheit stemmte.
Minimalistische, entschleunigte Pianoakkorde, rhythmisch davon ganz entkoppelt, über schweren Atemgeräuschen schwebend: Der Track „20211201“ ist zu finden auf Ryūichi Sakamotos neuem Album. Es ist schlicht „12“ betitelt und lässt sich in seiner strengen Reduziertheit auch so hören, dass Klänge unsere körpergebundene Existenz transzendieren und hinter sich lassen können.
Erschienen ist diese elegische Musik nun aus Anlass von Sakamotos 71. Geburtstag. Möglicherweise wird es die letzte Veröffentlichung des schwer krebskranken japanischen Künstlers sein. Über den im Dezember gestreamten Konzertfilm, den er aus Gründen der Schonung etappenweise aufgezeichnet hatte, hieß es bereits, es sei die letzte Gelegenheit, Sakamoto in concert zu erleben.
Über die Entstehung der tagebuchartigen Skizzen, die mit ihrem jeweiligen Entstehungsdatum betitelt sind, ließ der Künstler wissen, dass er nach einer Operation, kaum wieder zu Hause, zum Synthesizer gegriffen habe: „Ich hatte nicht die Absicht, etwas zu komponieren; ich wollte einfach nur von Klängen überflutet werden.“
Elegante Reduktion
Das Tröstlich-Therapeutische, das er in der Musik fand, überträgt sich auch auf die Hörer:in. Die schwermütige Musik wirkt trotz ihrer Reduziertheit verblüffend immersiv, wenn auch kaum flutartig (um Sakamotos eigene Umschreibung aufzugreifen) überwältigend. Und deutlich zurückgenommener, als zum Beispiel Leonard Cohen mit seinem finalen Album „You want it darker“ geklungen hatte – oder David Bowie mit „Blackstar“, dem Requiem, das er sich geschrieben hatte.
Ryūichi Sakamoto: „12“ (Milan/Sony Classical)
Sakamotos Blick auf den nahenden Tod ist vielleicht gerade wegen dieser fehlenden Dramatik intim und metaphysisch zugleich. Mit Ausnahme des letzten kurzen Tracks, auf dem dann nur noch ein vom Wind bewegtes Glockenspiel zu hören ist, sind die Stücke chronologisch nach ihrer Entstehung angeordnet. Und werden in der zweiten Hälfte des Album spürbar kürzer. Ein Ausdruck schwindender Kräfte?
„20220302 – sarabande“ klingt zugleich munterer als die übrigen Tracks, eine willkommene Unterbrechung der ambienthaften Anmutung. Darüber hinaus ist das Stück das einzige, das eine Art Regieanweisung im Titel trägt: Sarabande bezeichnete einen barocken Tanzstil – ein Kopfnicken in Richtung von Sakamotos Klassik-Helden Bach und Debussy.
Kämpferisch und agil
Das Vorgängeralbum „async“ (2017), erschienen drei Jahre nach Sakamotos erster Krebsdiagnose, klang wesentlich agiler; der Blick war nach außen statt nach innen gerichtet. Fieldrecordings ließ Sakamoto auf ein Sample treffen, in dem Paul Bowles aus seinem Roman „Himmel über der Wüste“ liest; eigenwillige Rhythmen auf die Klänge, die er einem beschädigten Konzertflügel entlockte. Sakamoto hatte ihn in einer vom Tsunami zerstörten Schule 2011 entdeckt.
Auch in „async“ lässt sich eine Auseinandersetzung mit dem Tod hineinlesen. Allerdings ging es da nicht nur um seinen eigenen, sondern auch um die Katastrophen, die sich in den Jahren zuvor ereignet hatten: allen voran die auf den Tsunami folgende Atomkatastrophe in Fukushima. In Folge des Reaktorunglücks wurde Sakamoto zum Umweltaktivisten und engagierte sich gegen Atomkraft.
Und blieb auch darüber hinaus so umtriebig, wie er es in seinem jahrzehntelange Musikschaffen stets gewesen war. 1978 hatte er mit Haruomi Hosono und Yukihiro Takahashi das Yellow Magic Orchestra gegründet. Es fusionierte elektronischen Pop und Exotica so, dass seine Musik stilprägend werden sollte. Wegbegleiter Takahashi, Schlagzeuger und Leadsänger der Band, ist nun leider in der vergangenen Woche gestorben.
Seit den frühen 1980ern war Sakamoto auch solistisch tätig und veröffentlichte Werke zwischen Jazz, Avantgarde-Pop und Elektronik. Stilistische Grenzen interessierten ihn kaum. Sein Soundtrack zu Nagisa Ōshimas Kriegsgefangenendrama „Merry Christmas, Mr. Lawrence“ (1983), in dem Sakamoto neben David Bowie die Hauptrolle spielte, macht ihn zudem zum gefragten Filmmusik-Produzenten. Zuletzt komponierte er Musik für die Sci-Fi-Serie „Exception“ (2022).
Vor fünf Jahren, im Dokumentarfilm „Coda“ (2018), der sich den Triebfedern seines Schaffens widmete, erklärte Sakamoto-san, er wisse leider nicht, wie viel Zeit ihm bleibe. 2014 war bei ihm Rachenkrebs diagnostiziert worden; die Krankheit schien besiegt. Er wolle, so Sakamoto, weiterhin Musik machen, für die er sich nicht schämen müsse. Das ist ihm gelungen. Leider ist der Krebs vor gut zwei Jahren zurückkehrt, nun als Darmkrebs im vierten Stadium.
Update: Das Album und diese Besprechung erschienen im Januar. Wie nun am 2. April bekannt wurde, ist Ryūichi Sakamoto am 28. März in Japan an seinem Krebsleiden gestorben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!