Lage in Lützerath: Urlaub vom Kapitalismus
Auch wenn die Aktivist*innen am Ende das Dorf räumen müssen: Sie können stolz sein auf gemeinsame Jahre der Solidarität.
E ckhard von Hirschhausen, der Arzt und Entertainer, will seine Kabarettistenkarriere aufgeben. Er will nur noch klimapolitisch arbeiten. Zu Lützerath sagte er am Mittwochabend bei „Maischberger“, wer einmal im Leben an einer solchen Tagebaukante gestanden habe, sehe beim Blick in so ein monströses Loch die Welt anders: „Und man fragt sich doch: Wo ist das eigentlich hin, was da eben noch war? Antwort: Es schwebt alles über uns.“
Die Voraussetzungen für noch viel mehr herumschwebendes Braunkohlerevier in unserer Luft wird derzeit geschaffen, und das offenbar fix. Die Räumung von Lützerath geht schneller als gedacht. Viele glaubten, die Einsatzkräfte würden warten, bis die große Demonstration diesen Samstag (unter anderem mit Greta Thunberg) vorbei ist. Stattdessen ist die Räumung bis dahin womöglich schon abgeschlossen. Am Donnerstag begannen die Hundertschaften auch in die Häuser einzudringen und machten sich an den ersten Baumhäusern zu schaffen. Die Hoffnung, Lützi bis zum Ende der Rodungssaison am 1. März verteidigen zu können, war offenbar naiv.
Die Polizei, die aus ihrem vertölpelten Einsatz im Hambacher Wald gelernt hat, geht gut organisiert mit chirurgischer Präzision vor. Sie arbeitet mit taghellem Flutlicht, und das 24/7. Aber das Schlimmste kommt erst noch: wenn die RWE-Abrissbagger anrücken und die Häuser wegrasieren.
Bei aller Trauer der vielfach sehr jungen BewohnerInnen von Lützerath haben sie allen Grund, stolz zu sein: auf ihr Durchhaltevermögen, auf ihre eigene emissionsfreie Energie. Und sie wissen, dass ihnen niemand mehr die gemeinsame Lützi-Zeit nehmen kann, die teils zwei Jahre andauerte: Jahre der Solidarität, für ein intensives und selbstbestimmtes Dasein im Miteinander, die für den Rest des Lebens prägend sein wird, auch für differenziertes politisches Denken. Eine Aktivistin hat mal gesagt, sie habe „den Urlaub vom Kapitalismus“ besonders genossen. Uns allen täten mehr freie Tage gut, bis hin zum Langzeiturlaub.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung
Serpil Temiz-Unvar
„Seine Angriffe werden weitergehen“