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Lieblingsstück 2022Allzumenschliches am Schaalsee

Alexander Diehl
Kommentar von Alexander Diehl

Das Beste des vergangenen Kulturjahres im Norden: Jan Georg Schüttes tolles Impro-Fernsehen lagert erfreulicherweise auf den Festplatten der ARD.

„Das Begräbnis“: Jan Georg Schütte (2. v. l.) mit einigen Dar­stel­le­r*in­nen und weiteren Beteiligten Foto: Gulliver Theis/ARD Degeto

Es war, wie so oft die tollen Sachen, ein Notfall“: Wie er zu diesem so anderen Arbeiten gekommen sei, anders zumindest für die hiesige Branche, das fragte neulich erst wieder die NDR-Moderatorin Bettina Tietjen den Schauspieler, Regisseur, Autor Jan Georg Schütte: Den hatte, es ist schon ein paar Jahre her, das ­Hamburger Thalia-Theater nicht weiter als Darsteller beschäftigen wollen.

„Ich stand auf der Straße und dachte, das Fernsehen kommt und bietet mir ganz viele Rollen an – da kam aber original gar nichts.“ Also versuchte der gebürtige Oldenburger sich an Drehbüchern: „Die waren sehr schlecht“, sagt er dem NDR.

Was persönlich-beruflich eine Krise gewesen sein mag, fürs Publikum anfangs das Radio hörende, später dann die Menschen vorm TV-Gerät und sogar im Kino – war es ein Segen: Weil der Erfolg mit konventionellen Ansätzen nicht recht kommen mochte, verlegte sich Schütte auf die erwähnte Arbeitsweise: eine, bei der Improvisation eine Hauptrolle spielt, eine nur sehr grobe Festlegung darauf, was am Ende eines Drehs erreicht sein soll – und eine inzwischen beeindruckende Zahl von Kameras: Bis zu 50 davon sollen im Einsatz gewesen bei Schüttes famoser, früh im vergangenen Jahr ausgestrahlten Familien-Miniserie „Das Begräbnis“.

Ganz zu Beginn seines Neuanfangs lud er die frisch ehemaligen Kol­le­g:in­nen ein, also Theaterleute, zu einem „Spielenachmittag“; aus einer DIN-A4-Seite und viel Freude am Miteinander-Spielen wurde am Ende sogar ein Kinofilm, „Swinger Club“, der, so Schütte, eingeschlagen sei „wie ’ne Bombe“. Das war 2006, es folgten weitere, teils enorm prominent besetzte Arbeiten, Senta Berger, 2014 bei „Altersglühen – Speed Dating für Senioren“ dabei, soll sich bis heute für sein Tun interessieren.

Hören und Sehen

Staffel 1 von „Das Begräbnis“ (2022) sowie zwei Staffeln von „Kranitz – Bei Trennung Geld zurück“ (2021/22) sind in der ARD-Mediathek zu finden; der Hörspiel­vorläufer „Der Paartherapeut“ von Jan Georg Schütte und Wolfgang Seesko in der ARD-­Audiothek

Schauspieler:innen, die wissen, wen sie spielen und „was diese Figur will oder nicht will“, so Schütte, dazu ein Konflikt und, eben, ein Plan, was sich am Ende einer Szene wie entwickelt haben soll: Das anfangs so exotische Vorgehen kennen wir inzwischen auch, zum Beispiel von der ihrerseits schon recht langlebigen US-Serie „Curb Your Enthusiasm“ (deutscher Titel: „Lass’ es, Larry“). Schütte empfindet solches Spiel als „lustvoller“, hat er mal gesagt, und als eine Art Rückkehr zu den Anfängen aller Schauspielerei.

Idealerweise steckt seine Begeisterung auch die tatsächlich Spielenden an – darunter manchmal Schütte selbst, der einst Absagen von acht Schauspielschulen kassierte, und aus dem doch einer von Deutschlands besten Darstellern geworden ist: Ausgehend von einer über zehn Jahre zurück liegenden Hörspielproduktion hat er in zwei TV-Staffeln den gleichermaßen sympathischen wie dubiosen Immobilienmakler und Paartherapeuten Klaus Kranitz gegeben.

Mit man­che:r Kol­le­g:in hat er schon wiederholt gearbeitet, Charly Hübner etwa war schon bei „Kranitz“ dabei, als therapiebedürftiger Verschwörungsgläubiger mit schwacher Impulskontrolle. Im gigantisch besetzten „Begräbnis“ nun, einer Verarbeitung eines deutsch-deutschen, aber auch schlicht ganz normalen Familien-­Traumas, gibt er den verhinderten Erben eines Klempnereibetriebs am Schaalsee. Aus immer wieder neuen Perspektiven wird diese ­Geschichte erzählt, sie erweitert sich nach und nach – es ist eine große Freude.

Schalten Sie also ein und wertschätzen Sie diesen Schütte, ehe der womöglich demnächst nach Hollywood entschwindet: Ein Remake von „Altersglühen“ nämlich, auch das sagte er dem NDR, das sei doch sehr leicht vorstellbar; talentierte Ü-60-Jährige gibt es dort drüben ja mindestens so viele wie hierzulande.

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Alexander Diehl
Redakteur taz nord
Wollte irgendwann Geisteswissenschaftler werden, ließ mich aber vom Journalismus ablenken. Volontär bei der taz hamburg, später auch mal stv. Redaktionsleiter der taz nord. Seit Anfang 2017 Redakteur gerne -- aber nicht nur -- für Kulturelles i.w.S.
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